Entwicklung
Bourges an der Loire
Geschichte
Entwicklung
Von den Kriegen zur Rüstungsindustrie
Mit dem Sturz dessen, der den Reichtum der Stadt verkörpert hatte, beginnt der Niedergang Bourges. Gegen Ende des 15. Jhs legt ein Feuer die Stadt in Schutt und Asche, die sich nur langsam wieder erholt. Obendrein versetzten die Religionskriege der Wirtschaft in der Region einen Schlag, insbesondere der Herstellung von Leinen. Weiterhin ist die protestantische Elite der unter Ludwig XI. gegründeten Universität gezwungen, ins Exil zu fliehen. Im 17. Jh. wird der Grosse Tour, Symbol des vergangenen Glanzes der Stadt, dem Erdboden gleichgemacht. Die Zeiten sind hart: die Fronde (die Aufstände gegen das absolutistische Königtum in Frankreich), Hunger und Epidemien beutelten ein ganzes Jahrhundert lang die Stadt und ihr Umland.
Nach der Revolution wird die Provinz in zwei Départements geteilt: das Département Cher und das Département Indre. Erst im 19. Jh. erwacht die Region aus ihrer Lethargie dank der Errungenschaften der Revolution: Schaffung von Genossenschaften, Anschluß an andere Gebiete durch den Kanal von Berry, Beginn des Schienenverkehrs und natürlich Bevölkerungswachstum. Im Jahre 1861 vollzieht Napoleon III. mit der Genehmigung eines Industriekomplexes zur Rüstungsherstellung einen für die regionale Wirtschaft entscheidenden Schritt. Dieser lukrative Sektor treibt die Modernisierung der Stadt voran und schafft zahlreiche Arbeitsplätze.
Während des Ersten Weltkrieges beschäftigt die Waffenindustrie in Bourges über 20.000 Personen. Ironie des Schicksals: erst hatten endlose Kriege die Region ausgepumpt, jetzt lebte sie durch die Herstellung von Kanonen wieder auf! Und zumindest eine zynische Lehre ist daraus zu ziehen: der Export von Kriegen ist ihrem Import vorzuziehen ... Wie dem auch sei, blühte die Stadt im 20. Jh. dank ihrer Rüstungsindustrie auf.
Keine ganz so bürgerliche Stadt ...
Erschließung und Industrialisierung der Vororte Bourges nehmen zu: Einweihung des Flughafens (1929), dann einer Flugzeugfabrik (1932), Eröffnung einer Universität für angewandte Wissenschaften (1945), eine Michelin-Niederlassung (1953), Zusammenschluß des Insituts für Waffenentwicklung mit dem für Pyrotechnik (geschaffen von Napoleon III.), etc. Mit dem Einfluß der Elektronik wandelt sich die Waffenindustrie zusehens zu einer hochtechnologischen Angelegenheit: Kanonengießereien weichen der Herstellung von Flugzeugraketen. Außerdem erobert die Raumfahrt die ansässige Industrie und schafft zahlreiche Arbeitsplätze. ebaAn dieser Stelle sei eine landeskundliche Randbemerkung erlaubt: die in Frankreich fehlende kritische Distanz, auf weite Strecken sogar euphorische Zustimmung zu kriegerischen Zwecken dienenden Erzeugnissen der Hochtechnologie läßt sich wohl damit erklären, dass sich die Franzosen schon zweimal in diesem Jahrhundert als Opfer eines Aggressors gesehen haben, wovor sie in ihren Augen die Technik in Zukunft bewahren wird. Alles was der Nation vermeintlich nützt, seien es Atommeiler, Überschallflugzeuge (Concorde) oder Trägerraketen (Ariane), ist sich einer breiten Zustimmung in der Bevölkerung, ungeachtet aller politischen und sozialen Gegensätze, daher gewiß.
Die geistesgeschichtliche Vergangenheit von Bourges und somit die Geschichte seiner Streitkultur wie auch sein heutiges, von der Arbeiterschicht geprägtes, soziales Profil lassen die Stadt zu einem fruchtbaren Boden für die Kräfte des Fortschritts und somit der Linken werden. Seit 1977 wacht der kommunistische Bürgermeister Raimbault, eine lokale Größe, zusammen mit seinen sozialistischen Beisitzern über die Geschicke der Stadt. Die Erklärung für über zwanzig Jahre Loyalität zu diesem Mann seitens der von ihm Regierten liegt in dessen ungebrochener Dynamik und einer Sozial- und Kulturpolitik mit unbestreitbaren Erfolgen: historische Gebäude wurden restauriert und »sozial Schwachen« (so nennt die Politik ja heute die Armen schönfärberisch, die davon auch nicht reicher werden) deren Bezug ermöglicht, zahlreiche Festivals erblickten das Tageslicht, das historische Erbe wurde gepflegt, Grünflächen angelegt, Vereine (über 150 davon zählt die Stadt) und die Verbreitung des Wissens über eine aktive Kulturpolitik gefördert.
Von der kulturellen Revolution bis zum musikalischen Engagement
Wer meint, allein in Paris werde Kultur großgeschrieben, ist noch nicht in Bourges gewesen. Ohne auf Jacques Coeur oder die folgenden Kreise zurückzukommen, die im Mittelalter die Stadt über ihre Grenzen bekannt machten, kann der Beginn des kulturellen Erwachens in die sechziger Jahre gelegt werden mit der Schaffung des Theaters Comédie de Bourges und vor allem einer neuen Bastion gegenüber dem allbeherrschenden Paris in Gestalt des Kulturhauses, das der Schriftsteller André Malraux, selbst erster Kulturminister Frankreichs, in Bourges einrichten ließ und das dann 1964 von Charles de Gaulle eingeweiht wurde. Dies war für Bewohner und Stadtverwaltung ein bedeutender Moment, der eine kulturell kreative Zeit einleitete. Bleibende Früchte sind die Groupe de Musique Expérimentale aus dem Jahre 1974, das Centre de la Chanson und der einmalige Printemps de Bourges, dessen Debüt in das Jahr 1977 fällt. Seither setzten alle Vertreter des Chansons ihren Fuß mindestens einmal in die Stadt (Higelin, Gainsbourg, Aznavour, Ferré, Lavilliers, etc.). Übrigens weiß das Festival sich nicht nur auf Frankreich zu beschränken. Zahlreiche Rockbands gastierten bereits in Bourges (die Pogues, Communards, Lloyd Cole) wie auch Vertreter der Black Music (Temptations, Ray Charles, Kassav´, etc.), nicht zu vergessen Folkloregruppen und sowjetische Musiker.
Haupttugend des Festivals ist jedoch seine Eigenschaft als »Sprungbrett« junge Talente kommen endlich zu Wort, und eine ganze Musikgeneration mit oft verkannten Stilen (vom französischen Rock bis zur World Music über Funk, Rai und Alternativmusik) sah hierin eine Chance, aus dem Ghetto herauszukommen, in dem sie sich bis dahin befand. Ein Hoch also auf die mutigen Organisatoren des Festivals, die der Rentabilität nicht den ersten Rang einräumten (trotz wachsender Teilnehmerzahlen hat die Organisation oft mit einem Defizit zu kämpfen) und so zu einem festen Faktor der musikalischen Kreativität in einem der seltenen Bereiche der Kunst, in denen die einfachen Leute sich wiedererkennen, dem Chanson wurden.