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Geschichte

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Stadt der Handschuhe

»Bin ich zwanzig oder dreißig Monate

fern des Vendômois

klage ich am Fels

zerknirscht und bedrückt ...«


Ronsard

Das Vendômois, nordwestlich von Blois, zwischen den Perche und die Petite Beauce gebettet, ist eine bescheidene Gegend, die oft zugunsten des Loiretals, seiner rührigen Nachbarin, links liegen gelassen wird. Ein unverzeihlicher Fehler! Dort, wo der Loir gedankenlos seine Zeit vertrödelt, breitet sich ein Teppich einnehmender Dörfer voller Überraschungen aus. Ihre Kalkvorsprünge bergen zahlreiche Höhlenhäuser, die mittelalterlichen Kirchenwände geben kostbare Fresken frei, ein Schloß oder ein Park taucht auf der Spitze eines Hügels auf und an den Sonnenhängen gedeihen jene köstlichen Landweine, die heute wieder im Kommen sind.

VENDOME (41100)

Vendôme, die elegante Stadt der Kunst und Geschichte (dieser vielversprechende Titel wurde ihr im Jahre 1986 verliehen), spielt mit dem Loir Verstecken. Zwei Flußarme umschließen die Stadt, während einige braungefärbte Ausläufer kühn bis ins Herz der Altstadt vordringen und nur durch die alten Gemäuer der bewohnten Inselchen im Zaum gehalten werden. Die Kanäle von Vendôme sind zu versteckt, als dass sie Erinnerungen an Venedig wachrufen könnten; es geht von ihnen jedoch eine für Städte seltene Idylle aus, wenn die Weiden ihre blättrigen Tränen vergießen und die Seerosen tanzen (wir geraten ins Schwärmen ...).

Geschichte

Die Kelten tauften den Ort Vindocinum, weißer Berg, da ein Kalkfelsen von vierzig Metern Höhe die Stadt überragt, die erst wirklich entstand, als die Römer eine Straße zwischen Paris und Le Mans durch diesen Ort legten. Nach der Christianisierung im 4. Jh. wird auf dem Fels eine Burg errichtet, und im 10. Jh. erhält Vendôme den Rang einer Grafschaft. Geoffrey Martel bemächtigt sich ihrer ein Jahrhundert später und gründet eine Benediktinerabtei, die große Bedeutung erlangt. Nach Einrichtung eines Stifts unter der Leitung von Kanonikern und dem Geschenk von Reliquien durch den Kaiser von Konstantinopel (kein Witz: eine Träne Christi und ein Arm des heiligen Georg!) strömen Fromme in die Stadt. Vendôme mausert sich zu einer der religiösesten Städte Frankreichs, um so mehr als ein Pilgerweg nach Santiago de Compostela durch die Stadt führt. Dank Handwerk und Märkte gelangt Vendôme inmitten dieses Trubels zu Wohlstand.

Vendôme – berühmt für seine Handschuhe

An der Grenze zwischen englischem und französischem Territorium, raufen sich Plantagenets und Kapetinger um die Stadt. Nach einer englischen Zeit kommt sie im 13. Jh. wieder unter die französische Krone. Lange entwickelt sich die Wirtschaft wegen des Hundertjährigen Krieges nur schleppend, bis dann im 15. Jh. Vendôme dank seines Handwerks einen neuen Aufschwung erlebt. Seine Handschuhmacher genießen europaweit Anerkennung. Dies geht so weit, dass Katharina von Medici ihren Ehrendamen Handschuhe aus Vendôme im Fingerhut schenkte zum Beweis ihrer außerordentlichen Feinheit!

In dieser Blütezeit wächst die Bevölkerung stetig, und die Gräfin Maria von Luxemburg leitet umfangreiche Bauarbeiten ein: Vergrößerung und Restaurierung von Kirchen, Bau von Herrenhäusern, etc. Im Jahre 1515 erhebt Franz I. – vielleicht in einem Anflug von Euphorie angesichts des Sieges von Marignan – die Grafschaft in den Stand eines Herzogtums. Vierundsiebzig Jahre später wird der dritte Herzog von Vendôme unter dem Namen Heinrich IV. König von Frankreich. Zu dieser Zeit toben in Frankreich jedoch bereits die sinnlosen Religionskriege. Grausames Schicksal: Vendôme steht auf der Seite der Liga, das heißt der Katholiken, die nur einen katholischen König akzeptieren, und Heinrich IV. ist ... Protestant. Die Stadt wird belagert, in Brand gesteckt und geplündert. Dies hat die schwerwiegende Folge, dass die für ihren Wohlstand verantwortlichen Gerber sich andernorts Arbeit suchen. Das Herzogtum wird César, einem der zahlreichen unehelichen Söhne des Königs, anvertraut.

Heilige Träne Christi

Während der folgenden beiden Jahrhunderte büßt die Stadt, beginnend mit der Herrschaft Richelieus, allmählich ihr Ansehen ein. Im 18. Jh. gereicht ihr eines ihrer Kinder jedoch sehr zur Ehre: der Marquis von Rochambeau wird an die Spitze der nach Amerika an die Seite Washingtons entsandten Truppen gestellt. Als Sieger der Schlacht von Yorktown wird Rochambeau zum Helden der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten!

Wegen ihrer allzu katholischen Vergangenheit leidet Vendôme auch während der Revolution. Die berühmte Abtei der Heiligen Dreifaltigkeit und die Stiftskirche Saint-Georges werden geplündert, und etwas später – das Unglück will kein Ende nehmen – fordert der Papst im Vatikan einen der großen Schätze der Stadt, die Heilige Träne Christi!, zurück.

Balzac - kein echter Musterschüler

Trotz dieser Unglückswelle legte sich Vendôme im 17. Jh. ein bedeutendes Stift der Oratorianer zu. Sein Ruf zog Söhne aus Bürgertum und Adel ganz Frankreichs in die Stadt. Zum Schulbeginn des Jahres 1807 kommt auch der Sohn einer reichen Pariser Familie, die in der Touraine lebt, in das Stift: der achtjährige Honoré de Balzac. Sechs Jahre wird er sich von seinen Kameraden darin unterscheiden, dass er ständig bestraft wird. Eher unsportlich, wird er oft zum Gespött seiner Mitschüler. Glänzend in Latein, aber stets verträumt, bringt er seine Lehrer zur Weißglut. Undiszipliniert, fristet er ganze Tage im Karzer. Er erträgt zwar nicht die sadistischen Methoden der »guten Brüder« (Peitschenhiebe und Beichte), seltsamerweise gefällt ihm aber das Eingesperrtsein. Als Schriftsteller wird er später seinen Lesern gestehen, dass er im Karzer ein Maximum an Büchern unter idealen Bedingungen der Abgeschiedenheit entdeckte.

Vendome heute

Vendôme bekommt unter Napoleon III. wieder Oberwasser, insbesondere durch die Bahnlinie Paris-Tours, die durch die Stadt führt. Als Unterpräfektur modernisiert sich die Stadt im 20. Jh. Diese Entwicklung gerät wie überall – und wie üblich – durch den Krieg ins Hintertreffen: im Jahre 1940 fällt ein Teil der Innenstadt dem Bombardement aus der Luft zum Opfer, darunter hunderte alter Gebäude. Eine weitere böse Erinnerung: in Montoire, ganz in der Nähe von Vendôme, trifft Pétain wenige Monate später mit Hitler zusammen: zur offiziellen Annahme der Kollaboration Frankreichs mit Deutschland in der feigen Überzeugung, dass Frankreich sich auf die Seite der Sieger zu stellen habe.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzen Industrialisierung und Bevölkerungswachstum ein. Zu den dynamischsten Bereichen zählen Elektronik, Mechanik, Elektrogeräte, Handschuhfabrikation – im Sinne der mittelalterlichen Tradition – und vor allem die Druckindustrie, eine weitere alte Tradition Vendômes. In der Stadt arbeitet beispielsweise der große Verlag »Presses Universitaires de France« mit seiner unter französischen Schülern und Studenten allseits beliebten Reihe »Que sais-je?«. Last not least rühmt sich Vendôme seit 1990 eines TGV-Anschlusses: der TGV Atlantique verbindet Paris mit Vendôme in nur fünfundvierzig Minuten.