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Geschichte

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Abtei wird zu Gefängnis

FONTEVRAUD (49590)

Fontevraud, an der Grenze zwischen der Touraine und dem Poitou im Garten Frankreichs, kann auf eine der wichtigsten monastischen Traditionen Europas als auch eine der bewegtesten Geschichten zurückblicken.

Aus der Geschichte

Die Abtei wurde von Robert d´Abrissel (1045-1117), einem Asketen, dessen Lebenszweck in der Bekämpfung der Dekadenz der Kirche bestand, gegründet. Als begabter Redner wußte er die Massen für sich einzunehmen. Hunderte Bekehrte, eine Mischung von Menschen aller Stände und Hintergründe, Leprakranke, Landstreicher, reuige Prostituierte, begaben sich mit ihm auf Wanderung. Diese vielschichtige, schillernde Gemeinschaft rief im Klerus der damaligen Zeit Erstaunen und Beunruhigung hervor und ließ den Wunsch nach einer festen Bleibe der Gemeinschaft entstehen. Eine Verbindung orientalischer und keltischer Askesetraditionen ließ die Männer mit den Frauen in einem Raum nächtigen: zur besseren Bekämpfung der Versuchungen des Fleisches. Auf Grund dessen erhielt Robert d´Abrissel die Genehmigung für die Gründung eines Klosters.

Fontevraud erwies sich nicht als eine schlechte Wahl (die Mönche hatten schon immer einen sicheren Instinkt bei der Wahl ihrer Niederlassungen): eine ländliche Idylle in einem Tal mit sprudelnden Quellen. Bald flossen auch die Almosen und aristokratische Damen schlossen die Gemeinschaft in ihr Herz, die Gebäude wuchsen. Natürlich brach die Konzeption des Klosters mit der damals üblichen Bauweise. Die einzelnen Teile des Anwesens umfaßten die verschiedenen »Zweige« von Fontevraud: das Frauenkloster (Grand Moutier), das Männerkloster (Saint-Jean-de-l´Habit), das Kloster der Leprakranken (Priorat Saint-Lazare), das Kloster der ehemaligen Prostituierten (la Madeleine) sowie die Krankenstationen (Quartier Saint-Benoît). Auch der Respekt, den Robert d´Abrissel den Frauen entgegenbrachte, war für die damalige Zeit ungewöhnlich. Somit ist es nicht erstaunlich, dass er bei seinem Abschied von der Abtei einer Žbtissin deren Leitung anvertraute, ein geradezu revolutionärer Akt.

Fontevraud geriet unter den Schutz der Grafen von Anjou. Eine der Töchter des Hauses wurde sogar zweite Äbtissin. Auch die Plantagenets nahmen die Abtei für sich ein, so dass sie dort unbedingt beigesetzt werden wollten. Geoffroy le Bel, Herzog von Anjou und von Maine, Herzog der Normandie (genannt Plantagenet, da seinen Hut ein Ginster zierte), verstarb im Jahre 1151. Sein Sohn Heinrich II. ehelichte Eleonore von Aquitanien und wurde König von England. Er zeigte sich Fontevraud gegenüber ausgesprochen großzügig. Seine beiden Kinder Jeanne und der künftige Johann Ohneland wuchsen dort auf, und nach seinem Tod im Jahre 1189 war er der erste hier beerdigte Plantagenet. Zehn Jahre später starben Richard Löwenherz und seine Schwester Jeanne; deren Mutter Eleonore hatte sich bereits seit fünf Jahren in die Abtei zurückgezogen. Auch die Kinder wurden hier beigesetzt, gefolgt von Eleonore von Aquitanien im Jahre 1204. Raymond VI., Graf von Toulouse und Isabelle d´Angoulême, Witwe Johann Ohnelands, machten die königliche Nekropole perfekt. In dieser Zeit erlebte Fontevraud seine Blüte. Im Jahre 1155 zählte der Orden bereits über sechzig ihm angegliederte Priorate. Diese Zahl wuchs bis auf 149 an, davon fünf in Spanien und vier in England. Das 16. und 17. Jh. waren für die Abtei ein goldenes Zeitalter, aus dem zahlreiche glanzvolle Gebäude hervorgingen.

Bis 1789 blieb Fontevraud seinen Prinzipien stets treu: stets übernahm eine Äbtissin die Leitung des Klosters. Es handelte sich auch um den einzigen gemischten Orden, der bis in diese Zeit überdauert hatte. Außerdem rekrutierte sich der Orden zu einem beträchtlichen Teil aus der Aristokratie. Von seinen sechsunddreißig Äbissinnen hatten fünfzehn königliches Blut. Im Jahre 1738 vertraute Ludwig XV. die Erziehung seiner vier Töchter Fontevraud an. Eine kleine Anekdote: wegen ihres edlen Geschlechts mußte der Äbtissin der Titel einer Herzogin verliehen werden, damit sie das Recht hatte, sich vor den Töchtern des Königs zu Tisch zu begeben.

In der Revolutionsphase wurde die Abtei parzellenweise verkauft. Die Gebäude ohne Land, insbesondere das große Kloster und die Abteikirche, fanden keinen Käufer, was ihre Rettung war. Dennoch ließen Plünderungen keinen Stein auf dem anderen. Im Jahre 1804 ordnete Napoleon dann die Umwandlung der Abtei in ein Gefängnis an.

Fontevraud: Gefängnis des Schreckens

Anno 1814, dem ersten Jahr, in dem die Abtei als Gefängnis diente, saßen hier 469 – darunter achtjährige – Gefangene ein. Ihre Zahl bewegte sich in der Folgezeit zwischen 1.400 und 1.800. Damit stand hier nach Clairvaux im 19. Jh. das größte Gefängnis Frankreichs. Es war nicht nur das größte, sondern auch eines der furchtbarsten: zwölf Stunden harte Zwangsarbeit und Gehorsam bis auf´s Messer. Ab 1839 traten absolute Schweigepflicht, Rauchverbot, schlimmste Strafmaßnahmen (Dunkelzelle, Haft bei Wasser und Brot), äußerst mangelhafte Hygienebedingungen und gesundheitsschädliches Essen hinzu. Tausende Gefangene starben an schweren Krankheiten wie der Tuberkulose. Und doch waren 75 % der Insassen keine Verbrecher, sondern kleine Delinquenten, Hühnerdiebe, Bettler, Landstreicher, Bedienstete, Landarbeiter oder Arbeiter aus der Textilindustrie, Hausierer, kleine Leute, kurz Tunichtgute, die Opfer der Krisen und des wirtschaftlichen Umbruchs im 19. Jh. geworden waren. Eine soziologisch aussagekräftige Zahl: um 1850 waren von 1.700 Häftlingen weniger als einhundert Eigentümer von Grund und Boden! Dies zeigt, dass sich die Zeiten kaum geändert haben ...

Zu den berühmten Insassen zählten der Anarchist Auguste Blanqui, der hier das Jahr 1836 verbrachte, der Faschist Charles Maurras, Begründer der antisemitischen »Action française« und vor allem in den vierziger Jahren der Schriftsteller Jean Genet, der schon zahlreiche Gefängnisse Frankreichs durchlaufen hatte. Er schrieb in »Le Miracle de la rose« »Von allen Zuchthäusern Frankreichs ist Fontevraud das furchtbarste. Nirgendwo sonst erfuhr ich Verzweiflung und Einsamkeit stärker, und ich weiß von den Gefangenen selbst, die zuvor andere Gefängnisse kennenlernten, dass sie eine der meinen vergleichbare Leidenserfahrung gemacht haben.«

Das Gefängnis von Fontevraud schloß erst im Jahre 1963 endgültig seine Tore.