Geschichten
Märchen in Majie
Versammlung der Künstler
Erzählungen als politisches Mittel
Einst erzählte die Großmutter ihren Enkeln Märchen. Von Hänsel und Gretel war die Rede, von Aschenputtel und dem bösen Wolf. Sie alle entführten die Zuhörer in ihre Welt, belehrten über Gut und Böse. Und die Moral von der Geschichte? Märchen werden sicher seit ebenso langer Zeit auch in China erzählt.
Alljährlich am dreizehnten Tag des Mondkalenders kommen Märchenerzähler in Majie zusammen. Dann lebt die Tradition auf, wenn sie im Sprechgesang, mit musikalischer Begleitung, ihre Geschichten vortragen. Die Künstler erzählen nicht wie Fernsehmoderatoren mit unbeteiligter Miene, sonder schnauben, zischen, grölen, knurren
Hunderttausende Zuschauer lauschen gebannt, pilgern von einem Erzähler zum nächsten, genießen das bunte Treiben. Händler bieten Fleisch an, Puffreis, Brot, Zuckerrohr. Wer nicht mehr zuhören mag, vergnügt sich damit, auf Luftballons zu schießen oder zu reiten.
Die Provinz Henan lockt mit flachen, fruchtbaren Weiten. Freilich sind Schlamm und Matsch, Überbleibsel des geschmolzenen Schnees, nicht allzu hübsch anzusehen, so auch der Dunst am Himmel nicht (ist das Wetter schuld? Oder die Fabriken?), doch die Landschaft steht hier schließlich auch nicht im Mittelpunkt. Es geht seit Jahrhunderten um Märchen und Kultur. Die Geschichte erzählt vom ersten chinesischen Wörterbuch, das in Henan verfasst wurde, vom ersten buddhistischen Tempel in China, von Märchenerzählern, die sich seit siebenhundert Jahren hier einfinden.
Das Treffen in Majie stelle man sich nicht so vor wie eine europäische Messe. Zwar erreichte die Zivilisation auch diesen Ort, doch wird es noch lange dauern, bis er ganz westlich ist. Die Versammlung findet auf offenem Feld statt, jedes Jahr, bei Wind und Wetter. Die Künstler stehen auf Lkw-Ladeflächen, Hockern, einem Podest
Früher lebten die Bewohner Majies im Reichtum, hatten weshalb sie sich die besten Künstler einladen konnten. Nun hausen sie in Armut, haben jedoch ihre Gastfreundschaft nicht vergessen. Sie beherbergen die Künstler tagelang ohne Bezahlung, schenken ihnen gar Geld für die Rückreise. Viele Märchenerzähler bekommen hier neue Aufträge, denn sie werden zu besonderen Anlässen geladen (Geburt, Hochzeit
).
Leider ließ die Beliebtheit erzählter Geschichten in den letzten Jahren nach, woran wie üblich die Errungenschaften der Moderne schuldeten. Seit der Fernseher Einzug in Majie hielt, haben sich die Künstler einem ungleichen Kampf zu stellen. Plötzlich müssen sie sich präsentieren, das Interesse ihrer Zuschauer fesseln deren Geduld durch den Fernseher freilich nachließ. Nun schlendern sie von einem Erzähler zum nächsten, ohne ihn zu Ende gehört zu haben, suchen Abwechslung. Nur die Alten hören noch freudig zu.
Eine Moral verkündet jede Geschichte, was freilich von der Regierung ausgenutzt wird. Die verlangt Erzählungen mit Inhalten der KP-Politik (späte Hochzeit, wenig Kinder
), um den Chinesen auf traditionellem Weg ihre Wünsche aufzudrängen.