Lourdes
Wallfahrtsort am Fuß der Pyrenäen
Heilige Grotte - Marienerscheinung
Es nennt sich Zeitalter der Aufklärung und Wissenschaft, in dem keine Mythen mehr Platz finden. Akribisch genau untersuchen Wissenschaftler die kleinsten Bestandteile unseres Planeten, erschaffen im Labor künstliche Tiere und Menschen. "Gott sind wir, sonst gibt es keinen", so scheint der Leitspruch moderner Menschen zu klingen.
Dennoch glauben viele nach wie vor an einen Gott, sei´s nun Allah oder Christus, und noch immer haben Menschen übersinnliche Erscheinungen. Freilich nimmt ihnen diese keiner ab, außer wenigen Gleichgesinnten. Die Wissenschaft sucht sie zu erklären, während hohe Prediger (welcher Religion sie auch angehören) sie ebenso glaubenslos zu ihren Nutzen ausschlachten. Man nehme nur Lourdes als Beispiel, eine Stadt am Fuß der Pyrenäen.
Bernadette Soubirous kam als Kind ärmster Eltern zur Welt; zeitweise lebte sie gar mit ihren Eltern und ihren jüngeren neun Geschwistern in einem einzigen Zimmer. Auf der Suche nach Brennholz begab sie sich mit einer Schwester und einer Freundin am 11. Februar 1858 zur Grotte am Fluss Gave, wo sie ein weicher Wind anblies. Ein wunderschönes Mädchen ganz in Weiß, etwa sechzehn Jahre alt, sprach sie an.
Insgesamt achtzehn Mal erschien ihr die junge Frau. Ihre Begleiter, manchmal tausende, erblicken nichts - einzig die vor Glück strahlende Bernadette im Gespräch mit der "unbefleckten Empfängnis", wie sich die Frau nennt. Gerade vier Jahre zuvor sprach Papst Pius IX in einem Dogma davon, das Bernadette jedoch unmöglich kannte. Zudem bekräftigt das Alter der Erscheinung, dass es sich um die Muttergottes handelte, denn Maria war zur Zeit der Geburt Jesu zwischen vierzehn und sechzehn Jahren alt.
Zweifler warfen Bernadette Halluzinationen vor, doch Psychologen und Mediziner bescheinigten ihr psychische Gesundheit. Selbst im polizeilichen Kreuzverhör tauchen keine Widersprüche in ihrer Rede auf.
Später, mit 22 Jahren, wurde Bernadette Nonne. Ständige Krankheiten zehrten an ihr, während ihre Kolleginnen sie mobbten. Im Alter von 35 Jahren starb sie 1879 an Knochentuberkulose. Ihr entbehrungsreiches Leben dürfte ihr allerdings nicht viel ausgemacht zu haben, denn schließlich hatte sie die Versicherung Marias, dass diese sie auf dieser Welt nicht glücklich machen werde. Aber in einer anderen.
1908 fand man die Leiche Bernadettes bei einer Exhumierung unversehrt. Momentan befinden sich ihre körperlichen Überreste in Nevers. 1925 sprach Papst Pius IX sie selig, 1933 gar heilig.
Krämerbude statt heilende Grotte?
Maria bat um eine Kirche, die der damalige Pfarrer natürlich umgehend errichten ließ. Vier weitere folgten, von denen manch eine freilich mehr an eine Tiefgarage als an eine Kirche erinnert.
"Die unbefleckte Empfängnis" fordert Bernadette auf, in der Grotte zu graben, woraufhin eine sprudelnde Quelle zum Vorschein kommt. Sie ist einer der Anziehungspunkte, denn von ihrem Wasser erhoffen sich viele heilende Wirkung. Bis zu 400 000 Kranke werden jährlich ins zwölf Grad kalte Wasser getaucht; andere zapfen das kühle Nass in Flaschen ab.
Marienstatuen werden angebetet, Opfer (Kerzen
) dargebracht, immer in der Hoffnung auf Heilung. Dabei erfolgt die nur höchst selten. Zwar erlebten bereits 1858 Kranke in Lourdes eine Wunderheilung. 30 000 weitere folgen, von denen immerhin 67 von der Kirche als echtes Wunder anerkannt wurden, doch was ist das bei den sechs Millionen Pilgern jährlich?
Trotz fehlender Wunderwirkung herrscht in Lourdes heitere, friedliche Stimmung vor. Und warum auch nicht? Die Wallfahrt bietet immerhin eine Abwechslung zum trüben Alltag, schenkt neue Hoffnung und eine religiöse Erfahrung. Man merkt, dass es noch viele gibt, die ein ähnliches Päckchen zu tragen haben. Gesunde pilgern ebenfalls hierher, um z.B. mit sich ins Reine zu kommen.
Moderne Technik ermöglicht stetig mehr Kranken eine Wallfahrt. So fährt inzwischen der TGV Lourdes an; der städtische Charterflughafen ist der bedeutendste in Frankreich. Die Anzahl der Hotels wird einzig von der Pariser übertroffen.
Über Wunder oder Nichtwunder lässt sich streiten, nicht jedoch über den Kapitalismus, der inzwischen in der Grotte überhand nahm. Jesu, der Sohn Marias, trieb einst alle Wechsler, Krämer und Tierverkäufer aus dem Tempel in Jerusalem, wobei er die Bemerkung machte: "Es steht geschrieben: ´Mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker, ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht.´" Es scheint an der Zeit, dass er erneut auf diese Welt kommt und die Händler aus Lourdes treibt. Dort erstehen Gläubige Marienfiguren in allen Farben und Größen, für zwei Euro oder gar hunderte, je nach Größe und Material. Überdies bieten Verkäufer Votivtafeln an, Rosenkränze, Besteck, Thermometer, Bildbände Das Bild Marias zieht dabei wie der Aufdruck eines berühmten Fußballers auf einem Trikot aus dem Fanshop. Der Rubel rollt kräftig in dem 17-000-Einwohner-Städtchen.
Sechs Millionen Pilger jährlich schenken der Erscheinung Glauben, so viele wie in keinem anderen Wallfahrtsort. Ob sie in Lourdes finden, was sie erwarten, darüber muss jeder selbst ins Klare kommen. Doch egal, ob man pilgert oder nicht, wer sein Vertrauen auf Gott setzt, dem sei angeraten, ihn dort zu suchen, wo er sich finden lässt: im eigenen Herzen.