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Geschichte

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Geschichte von Les Saintes

Bewegte Vergangenheit

Urige Transportmittel

Wieso sollte ausgerechnet Marie-Galante dem Berufsentdeckerblick eines Christoph Kolumbus entgangen sein? Allerdings begeisterte ihn die Insel nicht sonderlich, da sie zu seiner Zeit von den Kariben bevölkert war, doch taufte er sie immerhin »Marie-Galante« nach einem seiner Segelschiffe. Ehe die ersten Weißen sich auf der Insel niederließen, vergingen weitere hundertfünfzig Jahre. Ihr erster Gouverneur war der Marquis d´Aubigné, dessen Tochter Françoise später berühmt werden sollte als Madame de Maintenon. Ihre ersten Burgen baute sie aus dem Sand von Marie-Galante, bevor sie in Versailles einzog. Bis es soweit war, mußten sich ab 1648 freilich Dutzende Kolonisten von den rechtmäßigen Herren Marie-Galantes, den Kariben, den Garaus machen lassen. Erst die zweite Siedlerwelle wenige Jahre darauf, einhundert Mann stark, wußte sich dank einer Festung zu behaupten.

Während der englisch-französischen Kriege war die Insel als strategischer Vorposten der Hauptinsel Guadeloupe heftig umkämpft. England besetzte sie 1691, von 1703 bis 1706, während des Siebenjährigen Krieges unter Ludwig XV. und von 1808 bis 1816. Seit dieser Zeit verlor der »perfide Albion« jedoch jedes Interesse an dem Eiland – und bevorzugt heute bei weitem die französische Dordogne oder die Bretagne!

Als die Sklaverei 1848 unter dem Einfluß der Revolution abgeschafft wurde, geriet Marie-Galante zum Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen. Dazu eine Anekdote: in »Pirogue« oberhalb von Grand-Bourg, schütteten die Arbeiter der Zuckerfabrik den gesamten Zucker- und Rumvorrat ihres Unternehmens in einen Tümpel (»Mare-au-Punch«) und mischten so vermutlich den großartigsten Punsch zusammen, der seit Menschengedenken auf den Antillen gebraut wurde. Warum sie das taten, weiß niemand so genau zu sagen. Wollten sich die befreiten Sklaven an ihren früheren Besitzern rächen, oder aber handelte es sich um eine Art Übersprungshandlung in Erwartung eines kurz bevorstehenden Angriffs durch die Engländer? Fest steht: die Aufrührerischen hüpften mitten in diese berauschendsten Fluten aller Zeiten ... Ein Lied erzählt noch immer von diesem Ereignis:

»Yo dousi ma a yo

Yo mété sik, yo mété wom, yo mété difé

Yo koupé tété a lésè, yo fé labé dansé

yo manjé sapoti an dob.«

(»Ils ont adouci leur mare, mis du sucre, mis du rhum, mis le feu. Ils ont coupé les seins des religieuses, fait danser le curé et mangé des sapotilles en daube«. Zu Deutsch: »Sie verfeinerten ihren Tümpel, schütteten Zucker und Rum hinein und setzten ihn in Brand. Sie schnitten den Klosterfrauen die Brüste ab, ließen den Pfaffen tanzen und verspeisten geschmorte Sapotaäpfel.«)

Zucker-Abenteuer

Seit der Kolonialzeit bis heute verläuft die Geschichte der Insel praktisch parallel zu jener des Zuckerrohrs. Im 17. Jahrhundert arbeiteten hier nur eine Handvoll Zuckermühlen. Damals gab es vorwiegend Tabak. Mit Hilfe der technischen Kenntnisse jüdischer Flüchtlinge aus Brasilien entwickelten sich später die Zuckerrohrplantagen und -fabriken.

Das »Goldene Zeitalter« des Zuckerrohrs entfaltete sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nicht zuletzt durch den Mißbrauch Tausender von Sklaven. Während der englischen Besatzungszeit von 1759 und 1763 wurden 18.000 Sklaven nach Guadeloupe deportiert. Kaum vorstellbar: 1790 waren 9.400 der insgesamt 11.500 Einwohner von Marie-Galante schwarze Zwangsarbeiter!

Dieses »Goldene Zeitalter« setzte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fort: dank der Wiederherstellung der Sklaverei Anno 1802, der Errichtung großer Windmühlen ab 1808 und der protektionistischen Politik Frankreichs, die darauf abzielte, den eigenen Zucker gegen die Konkurrenz anderer karibischer Produzenten zu schützen. Damals wurde Marie-Galante die »Insel der hundert Mühlen« genannt. Die Revolution von 1848, die Abschaffung der Sklaverei und das Aufkommen des Rübenzuckers versetzten dieser Entwicklung einen gehörigen Schlag. So mußten die kleinen Zucker-Windmühlen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor größeren Fabriken kapitulieren (1885 waren nurmehr fünf Mühlen in Betrieb).

Wie gesagt, Marie-Galante lebte seit dem 18. Jahrhundert vorwiegend von Zucker-Monokulturen und war bestrebt, sich auch gegen den Rübenzucker in der Metropole zu behaupten. Ende des 19. Jahrhunderts wurden große Fabriken geschlossen, während sich andere modernisierten und umstrukturierten. Die Einwanderung von Indern und Chinesen, deren Arbeitskraft die der schwarzen Sklaven ersetzte, verlangsamte ihren Niedergang aber nur. Im Jahre 1920 übernahm eine Mulatten-Familie die Leitung einer Zuckerfabrik, 1924 kauften Schwarze eine andere. Zum ersten Mal erwarben nun Farbige Besitz auf Marie-Galante. Konkurse sowie ungünstige Witterungsverhältnisse erzeugten indessen weitere Krisen und beschleunigten die wirtschaftliche Konzentration.

Derzeit hat Marie-Galante nur noch eine einzige Zuckerfabrik aufzuweisen, nämlich in Grande Anse, sowie fünf Rumbrennereien. Von den hundertsechs Zuckermühlen aus dem »Goldenen Zeitalter« sind etwa siebzig übriggeblieben (als Ruinen). Und von den großen Fabriken hat längst wieder die Natur Besitz ergriffen. Eindrucksvoll und verlassen stehen sie noch immer da, verborgen in der dichten Vegetation unter Baumriesen, die zwischen den verrottenden Maschinen emporwachsen.

Zu den Symbolen Marie-Galantes gehört der von Zebus gezogene »Cabrouet« oder Ochsenkarren, mit dessen Hilfe vierzig Prozent des Zuckerrohrtransports abgewickelt werden. Folglich hat sich auch der schöne Beruf des Wagners erhalten. Trotz des Eroberungszuges der »Michelin-Reifen« finden noch an die zwanzig Wagner auf Marie-Galante ihr Auskommen. Die Kleinbauern versuchen ihrerseits, sich mit Viehzucht und Gemüseanbau über Wasser zu halten, während die Fischer über leergefischte Küstengewässer klagen. Da kann es nicht verwundern, dass es die Jugend Marie-Galantes auf der Suche nach Perspektiven nach Pointe-à-Pitre zieht.

Wichtige Tipps

Die Spannungen im Zusammenhang mit politischen Forderungen nach Unabhängigkeit können das Verhältnis zwischen Einheimischen und ausländischen Besuchern etwas trüben (obwohl auf der Insel die Mehrheit der Einwohner, wie anderswo auch, die Gastfreundschaft hochhält). Um Reizbarkeit und Mißverständnissen vorzubeugen, unbedingt folgende Ratschläge beherzigen – vor allem sind dabei unsere »Fototouristen« angesprochen: auch auf Grande-Terre, Basse-Terre und Les Saintes erleben diese gelegentlich aggressive Reaktionen der Bevölkerung auf »unverlangte« Schnappschüsse. Die Bewohner von Marie-Galante gebärden sich in dieser Hinsicht noch empfindlicher. Deshalb stets um Erlaubnis bitten, bevor man das Objektiv auf Menschen richtet, vor allem auch Arbeiter und Arbeiterinnen im Feld oder in Rumbrennereien. Das gebieten ohnehin Takt und Anstand, aber den geben manche Touristen ja bei der Zollkontrolle in Verwahrung ...

Es kann aber auch passieren, dass Fremden das Fotografieren eines der zuckerrohrbeladenen, typischen Ochsenkarren verboten oder nur gegen Bares gestattet wird. Bekannte erzählten uns, dass sie regelmäßig 10 Euro berappen sollten, und zwar auf der ganzen Insel. Das läßt auf eine Absprache zwischen den Bauern schließen. Offenbar wurden sie mit der Behauptung aufgewiegelt, Touristen verdienten mit ihren Fotos ein Vermögen. Es mag erstaunlich scheinen, dass eine solch einfache Erklärung genügt, doch mußte man sie stets vor dem Hintergrund einer zunehmenden Radikalisierung der Antikolonialismus-Bewegung sehen. Geldforderungen sollte man jedenfalls höflichst zurückweisen – ein Quentchen Humor kann dabei auch nichts schaden. In letzter Zeit hat sich die Situation entspannt, dank größerer Rücksichtnahme von Seiten der Gäste. Wir bitten auch darum, diesen Ansatz der Verständigung nicht wieder zunichte zu machen. Also noch mal: wer ein Foto »schießen« möchte, sollte freundlich um Erlaubnis bitten. Wird einem dies verweigert, ist es nicht verkehrt, zu verstehen zu geben, dass man die Motive der Ablehnung akzeptieren kann. Die Bewohner von Marie-Galante, die empfindlich auf eine Verletzung ihres Stolzes reagieren, haben seit kurzem begriffen, dass der Tourismus nicht nur ein notwendiges Übel ist, sondern auch Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und des Handels erschließt. Es ist an uns, dieses fragile, neu entstandene Gleichgewicht zu erhalten.