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Der Mann

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Anmaßendes Urteil über den Mann

Charakter des Venezolaners und Stellenwert der Familie

Gesellschaft und Kultur, Sitten und Gebräuche unterliegen starken Veränderungen. Die vier Einwanderungswellen sowie der wirtschaftliche Aufstieg und die Umverteilung des Vermögens hinterließen ihre Spuren und riefen verschiedene Charaktere hervor.

Es ist sehr schwer und anmaßend, ein Urteil über andere Menschen zu fällen, zumal wir oft die eigene Kultur als Norm vorausschicken. Erschwert wird die Charakterisierung des Venezolaners durch den Umstand, dass in den einzelnen Regionen noch kulturelle Unterschiede bestehen. Die Indianer sind mit der Schickeria in Caracas ebensowenig vergleichbar wie die fleißigen Andenbauern mit den Küstenbewohnern oder den wilden Reitern der Llanos. Aufgrund der Vielfalt des Volkes gibt es nicht den typischen Venezolaner, wie wir ihn fortwährend suchen. Dennoch möchte ich versuchen, ein Bild dieses Menschenschlages zu zeichnen.

Der traditionelle Venezolaner wirkt wie ein Lebenskünstler, ist auffallend intuitiv und ausgesprochen stark im Improvisieren. Er geht nicht in die Tiefe, sondern ist oberflächlich. Der modernen Technik steht er skeptisch gegenüber. Ein ausgeprägtes Familiengefühl und Traditionsgebundenheit zeichnen ihn aus. Er ist ein eifersüchtiger Macho sowie kinderlieb. Seine Frau pflegt noch die traditionelle Rolle im Heim und vor dem Herd. Den Kindern zuliebe macht er fast alles, wobei das Wort »nein« kaum existiert. Zu den Tieren hingegen hat er kein gutes Verhältnis. Hunde machen häufig einen verängstigten Eindruck, da er sie oft schlägt. Er sagt sich »trabajo para vivir y no vivo para trabajar«, was soviel heißt wie: ich arbeite, um zu Leben, und lebe nicht, um zu arbeiten. Oft ist es so, dass er von der Hand in den Mund lebt. Wenn nur ein Familienmitglied arbeiten geht und das Einkommen ausreicht, um alle anderen mit zu ernähren, so leben die anderen in den Tag hinein. Mit der Arbeitslosigkeit ist es genau umgekehrt wie in Deutschland. Geht jemand arbeiten, so bedauern die anderen ihn, dass er es nötig hat, Geld verdienen zu müssen. Sein soziales Ansehen verliert er durch Arbeitslosigkeit nicht. Zur Arbeit geht jeder gut gekleidet. Auch die Ärmsten ziehen ihre Sonntagskleidung an und tragen ihre Arbeitskleidung in einer Plastiktüte. Niemand muß ja wissen, dass sie zur Arbeit gehen. Bei Hausmädchen kann es vorkommen, dass sie bei geschlossenen Türen und zugezogenen Gardinen bügeln und lieber schwitzen, als zufällig von einer vorbeikommenden Freundin bei der Arbeit gesehen zu werden.

Der moderne Venezolaner strebt allerdings nach Reichtum und lebt in der Großstadt. Einfluß, Aufstieg und Erfolg sind für ihn von großer Bedeutung. Er zeigt sich leistungsorientiert, arbeitet strebsam und hat sich international ausgerichtet. Seine Frau ist emanzipiert und übt ebenfalls einen Beruf aus. Sein Kinderreichtum ist gering. Er studiert im In- und Ausland und hält sich auf dem Laufenden. Oft geht er am Leben vorbei, wenn sein Arbeitseifer überschäumt. Probleme löst er allerdings selten auf dem langen Weg des Nachdenkens, sondern auf dem Weg des geringsten Widerstandes, nämlich durch Geld und Beziehungen. Er achtet auf die »pantalla«, dass heißt, den Schein zu wahren oder zu blenden. Sein äußeres Erscheinungsbild ist stets gepflegt, d.h. Anzug und Krawatte auch bei 30° C im Schatten, und er verhält sich häufig großspurig.

Beiden Charakteren sind Musik und Tanz wichtig. Das Begrüßen der Damen im Freundeskreis mit dem Küßchen auf die linke und rechte Wange bringt die Herzlichkeit zum Ausdruck. Die Herren begrüßen sich durch Umarmung oder Schulterklopfen mit der linken Hand und Hüftklopfen mit der rechten Hand. Wie für die meisten südländischen Völker ist das Berühren und Anfassen der Hände, Arme und Schulterpartien wichtig. Der Abstand bei Gesprächen kann ungewohnt gering sein. Das empfinden manche Europäer als ein unangenehmes Sich-tief-in-die-Augen-schauen.

Die »Criollos« (in Venezuela geborene Weiße) haben oft Schwierigkeiten, sich mit ihrem Land zu identifizieren. Sie schwanken zwischen der Tradition der Eltern, Nationalstolz, den sie aus der Schule mitbringen, und moderner amerikanischer Lebenskultur. Auslandsreisen verstärken diesen Effekt.