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Stadt

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Schöne Stadt?!

Erster Eindruck im Panoramablick

London ist nicht das, was man eine schöne Stadt nennt. Es hat nichts aufzuweisen, was etwa der Place de la Concorde vergleichbar wäre. Die Zahl seiner durch Schönheit ausgezeichneten Gebäude steht in keinem Verhältnis zur Zahl seiner Häuser überhaupt. Namentlich in der City finden sich viele Gassen, auf die das Wort jenes spöttelnden Franzosen passt, der London mit kreuz und quer gebauten Mauerlinien verglich, darin sich eben große und kleine Löcher befänden. (Theodor Fontane, „Ein Sommer in London“, 1854)

Seither hat sich viel am Stadtbild geändert, schon dank des Capital Marble-Programms, das 1990-96 den durch Dreckluft beeinträchtigten Sehenswürdigkeiten zu altem Glanz verhalf. Aber an Fontanes Beobachtung, „durch Schönheit ausgezeichnete Gebäude“ seien rar, bleibt nichts zu deuteln. Immerhin ist Schönheit nicht die einzige Bedingung für die Anziehungskraft eines Objektes. Sehr wohl bietet London nämlich Sehenswertes jenseits der anerkannten sights. Denn wie sagt Fontane weiter:

So sind Hunderttausende von Häusern. Ihre Einförmigkeit wäre unerträglich, wenn nicht die Vollständigkeit dieser Uniformität wieder zum Mittel gegen dieselbe würde. In vielen Fällen führt der Bauunternehmer nämlich nicht ein Haus aus, sondern gleichzeitig und nebeneinander ein Dutzend, wodurch es das Aussehen eines einzigen Gebäudes gewinnt. Gesellt sich dann noch, wo die Häuser aneinandergrenzen, eine säulenartige Fassade oder gar ein zierlicher Balkon hinzu, so werden hier und da Ergebnisse erzielt, die sich dem nähern, was unsere hübschesten Straßen aufzuweisen haben.

Charles de Montesquieu zufolge war Paris eine schöne Stadt, die Abscheuliches in sich barg. Analog dazu wäre London also eine hässliche Stadt, in der sich Schönes findet. Nicht durch bauliche Harmonie besticht sie, denn wie das sprachliche Zentrum fehlt England auch der autoritär gelenkte Urbanismus nach Art eines Haussmann, à la Paris. Stattdessen erweckt London den Eindruck eines zufälligen Ballungsgebietes ohne Bezugspunkt.

Weil sich architektonische Gestaltung aufs Nordufer konzentrierte, tritt dieses Ungleichgewicht noch deutlicher hervor. Wohl hat die Themse einen Turner oder Whistler inspiriert, dazu den durchreisenden Canaletto. Doch auch sie schlägt einen Bogen ums „Zentrum“. Die Industrialisierung schwärzte die im 18. Jh. gefeierte Pracht der Ufer ein. So ist der Strom nur noch zu bestimmten Tageszeiten an bestimmten Orten schön, etwa an der Waterloo-Brücke oder am Chelsea Embankment.

Entsetzen erfasst den Besucher schließlich vor „Attraktionen“ wie Piccadilly. Doch gemach! Das Beste trifft man unerwartet, wo Stil, Material und Anordnung eigene Verbindungen eingehen: die Biegung einer schummrigen Allee mündet unverhofft in alte Pferdeställe, Puppenhäuschen mit bunten Türen werden von üppigen Parks beschattet. (Gerne übersieht man dahinter die Silhouette eines postmodernen Riesen.) So gleicht ein Streifzug dem Stöbern zwischen alten Theaterkulissen, wo klassische Eleganz, bürgerlicher Protz und proletarisches Elend dicht beieinander liegen. Rote Ziegel und schwarze Eisenstiegen im Hinterhof, weißer Stuck und leuchtende Farben an der Gartenfront – in London begegnet man dem Gegensatz zwischen gestern und heute auf Schritt und Tritt. Und seine kleinen squares sind selbst in verlottertem Zustand noch schön.