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Essen

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Eßgewönheiten in London

Die Stunde des Milchmanns

Der milkman kommt jeden Morgen jeden Morgen jeden Morgen. Da er seinen Stadtteil seit Jahren beliefert, gehört er fast zur Familie. Männer ruft er Sir und Frauen Love, wie es sich für einen Cockney gehört. Vom Elektromobil aus (soll ja keiner geweckt werden) stellt er lautlos die Milchflaschen auf die Schwellen, entnimmt den Zetteln in den Flaschenhälsen Bestellungen und läutet nur, um die Zutaten für ein gutes breakfast zu übergeben: Sahne, Brot, Eier, Würstchen, Schinken und gebackene Bohnen.

Auch die Zeitungen werden frühmorgens ausgetragen, meist von Schülern. Kein Mensch sorgt sich darum, dass ihm Milch oder Zeitung gestohlen werden könnten. Erstens gibt es einen bürgerlichen Anstand, zweitens ist das Frühstück jedem heilig. Wer vor 7h die Straßen durchstreift, sieht bestimmt einen Morgenmantel in einer halbgeöffneten Haustür, eine Hand, die hastig etwas zusammenrafft, und eine Tür, die sich diskret wieder schließt.

Die Sache mit dem Sonntag

Ein Sonntag in London bei Regen: geschlossene Geschäfte, leere Straßen, der Eindruck eines wohlgesitteten Friedhofs. Die seltenen Fußgänger, unter ihrem Schirm in der Öde von Plätzen und Straßen, gleichen ängstlichen Schatten. Das ist fürchterlich. (Hippolyte Taine, Mitglied der Académie française, 1869)

Wie überall in England, ist der Sonntag im London bis weit ins 20. Jh. ein seltsamer Tag. Jeder bleibt daheim, weil die Stadt ausgestorben ist, und sie ist ausgestorben, weil jeder daheim bleibt. Dort widmet man sich der Lektüre dicker Wochenzeitungen oder der Sunday Times. Wer die Welt schon kennt, pilgert vielleicht in eines der Museen oder in einen Pub, bevor dessen Kunden zum sunday dinner heimgehen, wo nach altem Brauch roast pork auf sie wartet, oder ein leg of lamb mit der berühmten Pfefferminzsoße.

Als Mittel zur Verdauung, aber auch gegen Depressionen, empfiehlt sich dann ein walk in the park. Um Tiere und Pflanzen zu betrachten, vor allem aber Mitmenschen, die ihrem Hobby nachgehen, oft in Begleitung eines Hundes. Hier wird ein prächtiges Segelschiffmodell auf dem Round Pond (Kensington Gardens) von einem Herrn mit Kapitänsmütze gesteuert. Da flattern Drachen über den Parliament Hill (Hampstead). Dort rudert ein Pärchen auf der Serpentine (Hyde Park). Und stets trifft man Leute, die einer Herzensangelegenheit nachgehen: Tiere füttern, mit Tieren reden, sich vergewissern, dass es den Tieren gut geht.

Wie alles in London hat die Sache mit dem Sonntag eine lange Geschichte. Im 7. Jh. erhoben ihn angelsächsische Christen zum Ruhetag. Erst 1618 lockerte Jakob I. per Dekret die Sitten. Der „weiseste Narr der Christenheit“, so sein Spitzname, gestattete „unserem guten Volk“ Rasenspiele und Amüsements nach dem Gottesdienst. Die Puritaner um Cromwell vergatterten die Insulaner dann wieder zum freudlosen Dämmerzustand. So verbot der drakonische Lord´s Day Observance Act selbst Spaziergänge am Sonntag. Noch 1855 mussten Polizisten Flaneure im Hyde Park vor Fanatikern schützen, die ihnen mit dem Ruf „Ab in die Kirche!“ auf die Pelle rückten. An dieses graue Einerlei erinnern sich ältere Londoner mit Schaudern und einem Schuss Wehmut. No fun, no sex, und dazu womöglich Nieselregen.

William B. Yeats galt „ein nasser Sonntag in der Cromwell Rd“ als Inbegriff britischer Tristesse. Fjodor Dostojewski, selbst nicht gerade eine Frohnatur, grauste es nach einem Besuch 1862 vor der „düsteren Sonntagsart der Briten“. Und Karel Capek, der Dramatiker, fühlte sich 1936 sonntags „erschlagen von Langeweile“.

Immerhin, 1952 erzeugte der Shops Act soviel Unklarheit, dass der Handel die Chance ergriff, auch den Sonntag zum Umsatzfaktor zu machen. Nun durften Gin oder Pornos über die Theke gehen, Babybrei und die Bibel aber nicht. (Imagine, wie Sonntage künftig hätten aussehen können!) Provinzkinos zeigten „Terminator II“, anspruchsvolle Theater mussten geschlossen bleiben. Auch Fußball gibt´s erst seit wenigen Jahren.

Wer sonst als Maggie Thatcher hätte das ändern können? Beim ersten Anlauf, 1986, versagte ihr noch ein Teil der Tories die Gefolgschaft. Es war eine von nur vier Niederlagen, die sie je im Unterhaus erlitt. Doch dann fiel die Mauer Stein für Stein. Erst wurde das Fußball- und Kinoverbot gelockert, dann folgte die Freigabe von Theatervorstellungen, Pferderennen und Glücksspiel; Supermärkte durften ihre Pforten für sechs Stunden öffnen, kleine Läden unterlagen keinen Beschränkungen mehr.

Und heute? Viel vom einstigen „Charme“ hat der Sonntag durch die Änderung der Ladenschlussgesetze eingebüßt. Dafür ist eine neue Art der Völkerwanderung zu bemerken. Elf Millionen Briten sind jetzt am „Tag des Herrn“ mit Einkaufstüten unterwegs, allein bei Sainsbury´s klimpern die Kassen 1,5 Millionen Mal. Die meisten Briten sind also nicht traurig, einem Tag entronnen zu sein, den Jean Rhys 1932 so beschrieb: „Es ist ein immergleiches Gefühl, überall im Lande, bleischwer, ein Stillstand der Zeit.“