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London: die Puzzlestadt

Der Kalender stand gerade bei 1760, als zu London der Kartograph John Spilsbury auf die Idee kam, zusammensetzbare Karten anzubieten. Er druckte sie auf eine Holzplatte und zersägte sie in unregelmäßige Teile, um Kinder auf spielerische Weise mit der Geographie vertraut zu machen. Damit nahm die britische Vorliebe für hölzerne Puzzles ihren Anfang.

Auch London ist solch ein zusammengesetzt´ Ding. Ungezählte Dörfer fügen sich in- und aneinander, mit deutlichen Bruchlinien, aber im Gegensatz zu Paris, Rom, Berlin ohne Mittelpunkt. Es gibt zwar einen Geldbauch (City) und einen Politikkopf (Westminster). Die boroughs drumherum haben aber nicht nur ihren Klassencharakter bewahrt, sie spiegeln auch die alte Trennung nach Stand und Beruf wider. Manches Viertel wird von Juristen geprägt, andere von Geschäftsleuten, Handwerkern, Theatervolk. Zum Ganzen werden diese Puzzleteile nur an zwei Stellen: im Pub und auf dem Weg dorthin, in der U-Bahn.

Die Londoner

1850 rief ein Colonel Alec Sibthorp im Parlament aus: „Engländer, schützt eure Frauen und Töchter, euer Eigentum, euer Leben. Die Fremden kommen!“ Er hatte erfahren, dass die erste Weltausstellung 1851 in London geplant sei. Heute spricht keiner mehr so, doch eine gewisse Distanz zum Touristenstrom, der sich alljährlich über ihre Stadt ergießt, bleibt unübersehbar. Dies ist nicht mit Scheu zu erklären. „Der“ Londoner sieht sich bis heute als Mittelpunkt der Welt; dass das Empire vor Jahrzehnten zerbröselte, ändert daran wenig. Doch von wem ist hier die Rede? Lauschen wir einem Dialog bei Doris Lessing:

„Hey, Doris, sagte sie, wie geht´s? Wie kommst du mit den Engländern aus?“
„Nun, ich habe leider noch keinen gefunden. London ist voller Ausländer.“
„Ich verstehe, was du meinst. Ich habe aber einen getroffen! Es war in einem Pub. Als ich ihn sah, wusste ich sofort, dass er ein richtiger war. Groß, asketisch, reserviert. Vor allem aber trug er alle Anzeichen magenverkrampfender Melancholie zur Schau. Wir redeten über Labour, das Wetter und die Welt. Schließlich platzten meine Freundin und ich heraus: ´Endlich haben wir einen Engländer getroffen!´ Da richtete er sich mit blitzenden Augen auf und verbesserte uns, nicht ohne Nachsicht: ´Ich bin kein Engländer, ich habe eine walisische Großmutter.´“

Und nochmals Doris Lessing, an anderer Stelle:
Die traurige Wahrheit ist doch, dass Engländer die bedrohteste Minderheit auf Erden sind. Man hat ihnen so lange eingebleut, dass ihre Küche, ihr Heizungssystem, ihr Liebesleben, ihr Auftreten im Ausland und ihr Benehmen zuhause unter aller Kritik sind, dass sie sich beim Anblick eines Fremden sofort tarnen.

Wenn es stimmt, dass Engländer so komplexbeladen sind, zeigen sie sich andernorts doch gefällig. Ihr Bürgersinn wird durch endlose Anekdötchen belegt, etwa von der schwangeren Frau, die im Doppeldeckerbus ihre Wehen bekam, worauf der Fahrer wendete – was nicht einfach ist im Londoner Verkehr! – und samt aller Fahrgäste zum Krankenhaus sauste.

Freudlich und ehrlich

Besonders spürbar ist diese Freundlichkeit in London, wo sie Klassen- und Rassengrenzen überschreitet. Um sie herauszufordern, müssen Sie nur auf dem Bürgersteig stehen bleiben, ein Hochhaus betrachten oder den Regen. Sogleich wird jemand anhalten: „Suchen Sie was?“ In dieser Stadt, deren Ausmaße jedem das Recht geben, sich mal zu verlaufen, weist man Ihnen bereitwillig den Weg. Ja, man wird Sie sogar dorthin führen.

Verlassen Sie sich auch auf die Ehrlichkeit der Londoner. Wer sich vom unbeobachteten Zeitungsstapel an der Straße bedient, wird den Kaufpreis stets in die dabeistehende Blechkasse einwerfen. Milch und Sahne, frühmorgens vor der Tür abgestellt, werden dort um 10h noch von ihrem rechtmäßigen Besitzer vorgefunden.

(Leider wurde diese altmodische Tugend zu oft ausgenutzt: Wer früher vor dem Besteigen der U-Bahn vergessen hatte, eine Fahrkarte zu lösen, konnte es nachträglich tun. Diese Regel wurde 1995 abgeschafft.)