Irdisches Paradis
Tafelsilber
Kein Kapitalismus - Judenvertreibung
Das Urteil der Wissenschaftler ist differenzierter: Jean-Pierre Leguay, Hervé Martin und vor allem Jean Kerhervé sind sich darin einig, wenn sie zugleich die These vom angeblich altertümlichen Herzogtum, was Wirtschaft, Institutionen und Kultur angeht, sowie die These vom »sanften irdischen Paradies« dass die herzögliche Bretagne den Grandes Chroniques von Bouchart; zufolge gewesen sein soll, ablehnen. Eine mythenhafte Bretagne, die jenem Autor zufolge, »sich in blühendem Wohlstand befand, mehr als alle anderen Fürstentümer, denn in der Bretagne herrschte Gerechtigkeit; das Volk dort war reich und mit Gütern gesegnet, in solchem Maße, dass man kein Dorf gefunden hätte, in dem es nicht Silbergeschirr in Hülle und Fülle gegeben hätte«. Derselbe Chronist weist darauf hin, dass mit der französischen Herrschaft »diejenigen, die Silbergeschirr besessen hatten, nunmehr gerade noch einen Überfluß an Holzgeschirr haben!«.
In Wahrheit scheint es in der Bretagne einen bestimmten wirtschaftlichen und kulturellen »Höhenflug zur Zeit der Herzöge von Montfort; (speziell Jean V.) gegeben zu haben, der aber weit unterhalb der Voraussetzungen blieb, welche die Geburt eines regen Kapitalismus möglich gemacht hatten.
Durch die politische Stabilität und den allmählichen Aufbau einer recht wirksamen Finanzverwaltung ermutigt, unterstützt von einem für seine Stoffe berühmten Handwerk, von einer damals bedeutenden Versorgung mit Waren (Salz von Guérande und Bourgneuf) und von landwirtschaftlichem Fortschritt in Arvor, entwickelte sich von Nantes, Morlaix und Saint-Malo aus, den Heimathäfen bretonischer Schiffe, die Segel setzten gen Portugal oder Flandern, ein Handel mit internationalen Ambitionen, während sich das Städtenetz vergrößerte zugunsten der Zunahme von Märkten. Aber es handelte sich weniger um einem machtvollen Eintritt in die Welt des Austauschs, die Raum und Zeit verband, als um den Aufschwung einer Berufung von Transportunternehmern, begünstigt durch die Lähmung, von der die französischen und englischen Nachbarn betroffen waren. Folglich nicht zu vergleichen mit den entscheidenden, von Braudel beschriebenen Veränderungen, die sich zur selben Zeit in Norditalien, Flandern und im Rheinland abspielen.
Techniken und Mentalitäten blieben vorkapitalistisch: Schiffe mit kleinem Frachtraum, nur an Küstenschiffahrt angepaßt; Fehlen von Bankgesellschaften mit zahlreichen Filialen (die Juden waren, wie Leguay sehr zu recht ins Gedächtnis ruft, unter Jean I. auf so rasche Weise vertrieben worden, dass »ihre Anwesenheit nur recht vereinzelt beurkundet wird, in Nantes und in Saint-Malo«) äußerst primitive Buchhaltung; Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in so wichtigen Bereichen, wie Bergbau und der Herstellung von Waffen und Präzisionswerkzeug; das Fehlen von Universitäten bis zur Zeit von François II.