Yiddisch wird verdrängt
Jüdische Kultur und Geschäfte
Chinatown, Little Italy, Hippies und Punks
Siebziger und achtziger Jahre
Abe ist sechzig Jahre alt. Er führt seinen kleinen Mischlingshund jeden Abend spazieren und trägt ihn auf dem Arm wieder heim, wenn das Hündchen müde ist. Abe hat einen gebeugten Gang, trägt seinen kleinen Filzhut in die Stirn gezogen und spricht mit Yiddisch-Akzent, stets zu einem Scherz bereit und mit den Damen am Schäkern. Er lebt seit fünfzig Jahren in diesem Viertel, seit jener Zeit, als die Gläubigen sich noch in der Synagoge drängten, bevor diese von Randalierern beschädigt wurde, bevor die katholischen Kirchen erschienen, blauweiß oder grünweiß angemalt. Die 7. Straße war die schickste im Viertel (im Westen ist sie es noch, im ukrainischen Abschnitt), mit ihren kleinen, dreistöckigen Ziegelhäusern, die Straße der Ärzte nannte man sie, denn davon gab es rund ein Dutzend.
Abe hat die Abfahrt verpaßt, als die Juden aufbrachen, er und dr. Paul Klein, dessen Schild noch immer an der Glasscheibe seiner Praxis im Erdgeschoß hängt, und die armen Juden, die 1950 in den Betonbauten auf der Avenue A zusammengepfercht lebten, mit Patrouillen von bewaffneten Wächtern drumherum. Abe ist Fatalist. Er hat miterlebt, wie sich die Puertorikaner hier niederließen, eine Welle nach der anderen, wie die Droge kam, aber er wird hier bis zu seinem Lebensende bleiben.
Die anderen führen seit langem eine bürgerliches Leben in Brooklyn oder in der Vorstadt, das ganze Viertel beschränkt sich nun auf einige Straßen südlich der Houston Street, auf den Handel mit pickles, bagels, den berühmten Delikatessen, und die souks von Orchard Street, mit den großen Aushängeschildern, die in riesigen Buchstaben Laskys Bros, Kaufman, Rosenberg Hosiery, Gorelich etc. ankündigen. Wäsche, Schuhe, Leder. Die niedrigsten Preise von New York, dazu pickpockets.
Die Lower East Side ist eine Neapolitaner-Schnitte, zeitlich und räumlich. Chinatown im Süden, Little Italy im Westen. Ein bißchen Ukraine hier, mit Ostereienr und orthodoxen Riten in der Kirche, ein bißchen jüdische Küche da, Luxuskäseverkäufer Seite an Seite mit den alten Koscheren Metzgern, die smoke-shops der alten Hippies, die zwischenzeitlich zu Punk-Friseurläden umfunktioniert wurden. Das Fillemore East, Hochburg des Rocks 1968-70, wo ich meine ersten Joints rauchte, während die Doors oder Grateful Dead sich vor einer psychedelischen Lichtershow bewegten, wurde von The Saint beerbt, einer Mammut-Gay-Disko, deren high-tech-Treppen morgens um 9 von völlig fertigen poppers bedeckt sind.
Frischrasierte junge Weiße mit offener Gay-Attitüde tauchen aus den vor kurzem renovierten Wohnungen auf, wo vor zehn Jahren nur Hippies ihren Fuß hingesetzt hätten, und ignorieren den Anwerber, der an der Ecke von B und Tomkins Square den Bullen auflauert, an derselben Stelle, wo neulich an einem Samstag mittag ein Mann um die fünfzig mit Pistole in der Hand einem anderen hinterherlief, genau vor meiner Nase.