Leitfiguren
Leitfiguren des Buddhismus
Dalai-Lama als Autorität
Götter, Lamas und Reinkarnationsmythos
Nicht etwa, dass der tibetische Buddhismus umstandslos dem »guruzentrischen« Weltbild zuzurechnen wäre; im Gegenteil: seine Leitfiguren zeichnen sich eher durch eine unprätentiöse, keineswegs ehrfurchtheischende, wie beim Dalai-Lama oft selbstironisch zurückgenommene Autorität aus. Aber der tibetische Buddhismus hat mit dem Mahajanabuddhismus den Buddha, der nur Lehrer der Sebstbefreiung sein will, in einen »Bodhisattwa«, einen Fremderlöser, einen Heiland umgedeutet. »Bodhisattwas«, die ihren Eingang ins Nirwana um der Erlösungsbedürftigen willen verzögern, veranschaulichen und verkörperlichen »metta«, ein umfassendes Mit-Gefühl. Die Zuwendung hat indessen ihren Anlehnungspreis. Wer in der Lehre des Buddha das Sitzen und den aufrechten Gang lernen kann, geht hier wieder in die Knie, wenn er sich nicht gleich ganz niederwirft. Folgerichtig beruht der Lamaismus auf einen klar gegliederten hierarchischen System, einer Theokratie, mit Autoritäten, denen sich auch das westliche Subjekt, das von Priestern, Bischöfen, gar Päpsten nichts mehr wissen will, begeistert unterordnet. Wenn der Dalai-Lama nicht eher etwas dafür täte, seine überkommene theokratische Autorität abzubauen, dann hätte man längst auch im esoterischen Westen in ihm den alten Gott wiedergefunden, zu dem es jeder selbsternannte Guru ohne weiteres bringt. Respektlose Zungen behaupten, in Rom regiere eine Art »Dalai-Lama des Katholizismus«. Das mag dahingestellt bleiben. Den altneuen Gläubigen wäre jedenfalls nichts lieber, als wenn sie im Potala von Lhasa oder im Exil von Dharamsala den buddhistischen Vatikan wiederentdecken könnten.
Folgerichtig ist auch der Buddha, auf den sich der esoterische westliche Buddhismus bezieht, eine wieder von göttlicher Aureole umgebene Gestalt: die förmliche Statue eines Buddhas, wie sie inzwischen jeden besseren esoterischen Hausaltar schmückt. Ohne Sinn und Verstand, ohne alle Rücksicht auf die Kitschgrenzen, dafür um so mehr mit dem Mut zum Unglaublichen werden dem Buddha all die Legenden und Wundergeschichten wieder zugeschrieben, die freilich schon der Buddhismus selber sehr früh zu fantasieren begonnen hat. Dem heutigen Westler ist ein menschlicher Gott suspekt: erhaben muß er sein, weit weg, entrückt. Wunder sind zudem des Glaubens liebstes Kind. Bestünden keine Zweifel an den Aussagen der Propheten, so wären sie überflüssig. Durch Flächenbombardements von Unwahrscheinlichkeiten setzen sie die Verstandestätigkeit höchst wirksam außer Kraft. Die Wundergläubigkeit ist der sichtbarste Beweis defizitärer Geistestätigkeit.
Und dann der vielversprechende Wiedergeburtsmythos, der dem esoterischen Westen bei weitem am meisten aus der Seele spricht. Wenn Götter und höchste Lamas, wie im tibetischen Buddhismus, in kleinen Kindern wiederkehren können, zu schweigen von dem, was und wer in den Gurus sein heiliges Wesen treibt welche Überraschungen können unserer dann noch harren! Der Reinkarnationsmythos steht für die Kontinuität, wenn nicht Karriere, die sich das westliche Subjekt von seinen diversen Wiedergeburten verspricht. Es möchte einfach immer höher, jedenfalls immer weiter hinaus. Dafür nimmt es auch in Kauf, dass es vor seiner jeweils aktuellen Wiedergeburt möglicherweise einmal menschlich oder tierisch tiefer rangierte und wieder rangieren könnte, zumal ihm selbst eine tierische Existenz noch die Rückkehr in die verlorene Natur verspräche: der Reinkarnationsmythos als spirituelles Ökosymbol und als Wanderungsfantasie. »Wer bin ich?: das heitere Berufungsraten«.
Wie es aber auch ausgehen mag: das an sein allerliebstes Ich gewöhnte westliche Subjekt bleibt sich auch und gerade auf den verschlungenen Pfaden der Wiedergeburt seiner Identität gewiß. Leicht abgewandelt, möchte es ja in anderen Formen als das wiederkehren, was es seiner individuellen Substanz nach zu sein glaubt. Mit der »Nicht-Ich«-Lehre des Urbuddhismus vom Schein-Ich fluktuierender Daseinsfaktoren hat es nichts im Sinn. Und wenn dann noch am neuen Seinshorizont Reinkarnationsprämien winken ...