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Ende 20. Jahrhundert

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Chicago auf dem Weg in die Moderne

Al Capone ist passé

Mitten im Vietnamkrieg, 1968, wurden gewaltige studentische und pazifistische Demonstrationen vor dem demokratischen Nationalkonvent brutal zerschlagen. Diese Ereignisse zeichnen noch heute die Generation der Vierzig- und Fünfundvierzigjährigen.

Zur Zeit ist Chicago zweitbedeutendster Industriestandort des Landes und einer der wichtigsten Finanzmärkte der Welt. Hier wird der Preis für Weizen und Soja festgelegt. 1971 sind die großen Schlachthöfe nach Kansas City abgewandert. Die Dynamik der Stadt hat allerdings auch eine ultrakonservative, einseitig an wirtschaftlichen Erfordernissen ausgerichtete Denkweise hervorgerufen: die »Chicagoer Schule«, jene Theorie von Milton Friedman, die auf einem völligen wirtschaftlichen Liberalismus gründet. Ihre mit dem Spitznamen »Chicago Boys« versehenen Anhänger waren u.a. Berater von Pinochet in Chile, wo dieser Monetarismus nicht nur völlig versagte, sondern großes Unheil über die Leute brachte, ähnlich auch im thatcherschen England.

Glücklicherweise bietet Chicago ein anderes Bild. Zunächst einmal als der recht erfolgreiche Melting-Pot. Stärker als in anderen Städten spürt man das Bestreben der irischen, italienischen, jüdischen, polnischen – Chicago ist die zweitgrößte »polnische« Stadt der Welt – und anderen Ethnien, sich zu integrieren. Die Einwohner von Chicago stellten ihre offene Geisteshaltung auch unter Beweis, als sie 1979 eine Frau (Jane Byrne) an die Spitze der Millionenstadt setzten und als sie 1983 einen schwarzen Bürgermeister, Harold Washington, wählten, obwohl der Anteil der Schwarzen nur vierzig Prozent beträgt und von diesen nur wenige an Wahlen teilnehmen. Seit dem legendären Chicago eines Al Capone sind im Geschichtsbuch einige Seiten umgeblättert worden.

Im Jahre 1992 übrigens wurde bei Bauarbeiten der Chicago River angebohrt und ein fast vergessenes Tunnelsystem aus dem letzten Jahrhundert von 80 km Länge geflutet. Folge: die ganze Innenstadt blieb zwei Tage ohne Strom, Dutzende von Gebäuden mußten geräumt werden, darunter der Sears Tower, das damals höchste Gebäude der Welt. In manchen Gebäuden stand das Wasser 10 m hoch in den Kellern.

Angelegt zum Transport von Kohle, Post und Warenlieferungen, blieben die Gänge bis in die fünfziger Jahre in Benutzung. Ab 1906 hatten sogar Elektrozüge diese Aufgabe übernommen. Heute enthalten die Gänge Glasfaserkabel und Kabel der Stromversorgungsgesellschaft. Unterhalb dieses Systems liegt anscheinend noch ein weiteres, über das uns nur bekannt ist, dass die Verantwortlichen die Wassermassen dorthin ablassen wollten. Es wäre nett, wenn jemand weitere Angaben dazu senden könnte.

Vom merkwürdigen Schicksal einer Mauer

Hier nun eine Anekdote, die das Bemühen der Chicagoer zeigt, ihre Vergangenheit auszumerzen. Niemand hat jene berühmte Episode des Bandenkrieges vergessen: das »Massaker von Sankt Valentin«. Am 14. Februar 1929 wurde ein Dutzend Männer im Auftrag von Al Capone vor der Mauer einer Autohalle erschossen. Als Symbol eines verwerflichen Geschehens wurde diese Autohalle vor zwanzig Jahren abgerissen.

Ein reicher Geschäftsmann aus Vancouver, George Patey, wiederum kaufte die berüchtigte Mauer und wollte sie einem Freund schenken, der gerade ein im Stil der Prohibitionszeit ausgestattetes Restaurant eröffnete. Der Freund lehnte dankend ab, mit der Begründung, der Anblick werde seinen Kunden den Appetit verderben. Der Unternehmer bot seine 417 Steine nun der Stadtverwaltung an, um sie für ein Antikriminalitätsdenkmal auf einem öffentlichen Platz zu verwenden. Es gab heftige Reaktionen gegen diesen Vorschlag. Selbst ein Museum für Verbrechen lehnte den Besitz der verfluchten Mauer ab.

Da Chicago von seiner »Mauer« nichts wissen wollte, nahm der Unternehmer sie mit nach Vancouver, wo sie tatsächlich einen Platz fand ... in der Herrentoilette einer Diskothek, dem Banjo Place. Die Leidensgeschichte ist damit jedoch bei weitem noch nicht abgeschlossen. Es dauerte nicht lange, bis auch Frauen kamen, um sich die berüchtigten Steine anzusehen. Um also jedwede unsittliche Kalamität zu vermeiden, mußten eigens Tage für das Weibervolk eingerichtet werden!

Heute ist das Banjo Palace geschlossen und die Mauer wieder auf der Suche nach einer neuen Bestimmung. Bleibt abzuwarten, ob dem Reststück der Berliner Mauer in der Bernauer Straße ein ähnliches Schicksal bevorsteht ...