Stadt
Flugzeugstadt
Das Stadtbild Brasílias ...
... erinnert an die Form eines Flugzeugs. Dies wird sehr deutlich, wenn man von oben, bei An- oder Abflug, auf die Stadt schaut. Die Tragflächen entsprechen der nord-südlichen Verkehrsachse (Eixo Rodoviária), der Flugzeugrumpf wäre die Achse aus den öffentlichen Gebäuden im west-östlichen Teil. Kopf wie auch Ende des imaginären Flugzeugs fasern nach außen hin aus, während man an der Schnittstelle von Rumpf und Flügel den Busbahnhof angelegt hat.
Auf beiden Seiten der Verkehrsachse als mehrspurige Schnellstraße angelegt siedeln sich die Superquadras oder Wohnblöcke an, dann, am Seeufer, die Botschaften. Für jeweils vier Wohneinheiten stehen eine Kirche und eine Schule zur Verfügung. Geschäfte, Hotels und Restaurants sind in jedem Viertel vorhanden.
Auf der Achse der öffentlichen Gebäude (Monumentos públicos) sind sämtliche Ministerien und Institutionen zu finden: so die Nationalversammlung, der Senat, der Gerichtshof, Banken und bedeutende Firmen.
Vom Fernsehturm aus eröffnet sich ein einzigartiger Ausblick. Was verblüfft, sind die gewaltigen Entfernungen sowie das Verstreutsein der Gebäude, Monumente und Wohnhäuser ... Häufig trennen mehrere hundert Meter eines kurzgehaltenen, verbrannten oder vertrockneten Grasstreifens die Bauwerke voneinander. So entsteht ein Eindruck von unglaublicher Leere und Öde. Tatsächlich gab es hier Land, soviel man wollte. Keine geographischen oder politischen Schranken hielten das pharaonische Vorhaben, eine »moderne« Hauptstadt aus der Retorte zu schaffen, auf. Widerstände gab es allenfalls im Kreis der zum Umzug gezwungenen hohen Beamten, ausländischen Botschaftsangehörigen usw., denen es gar nicht schmeckte, das lebenslustige Rio mit der Einöde, der endlosen Hügellandschaft der Cerrados auf der Hochebene von Goías, zu vertauschen.
Lebensart der »Brasílianer«
Architekt und Städtebauer verfolgten die Absicht, dass Brasília die ideale Lebensart der Zukunft versinnbildlichen sollte. Die quer durch die Stadt verlaufenden Verkehrsachsen sind besonders breit und kreuzungfrei, um Staus zu vermeiden.
Die Wohnblöcke, ein jeder für dreitausend Personen vorgesehen, wurden abseits vom Verkehrsstrom mit einem Höchstmaß an Grünflächen, je einer Schule, Kirche, Postamt, einem Markt, den notwendigen Geschäftsleuten und Handwerkern ausgestattet. Kurz gesagt: alles war bedacht worden, um das Wohlbefinden der künftigen Bewohner zu gewährleisten. Obwohl geplant, kam es häufig jedoch nicht zur Eröffnung von Clubs, Kinos und soziokulturellen Einrichtungen. Das lag daran, dass viele Beamte sich sträubten, ihre goldenen Strände an der Küste zu verlassen. Sie glaubten nicht an den Erfolg eines solchen künstlichen Gemeinwesens und ließen sich nicht schlecht bitten, doch noch zu kommen. Heutzutage müssen die hier Beschäftigten mindestens vier Jahre Brasília vorweisen können, bevor sie das Recht haben, sich wieder an die geliebte Küste zurückversetzen zu lassen. Auch die ausländischen Botschaften sahen nicht recht ein, was sie auf der trostlosen Hochebene sollten, und verzögerten ihre Umsiedlung jahrelang. Erst als die brasilianische Regierung einigen Staaten mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen drohte, wurden die überfälligen Entscheidungen getroffen.
Das gesellschaftliche Leben eines jeden Viertels hat mit den vermeintlich idealen materiellen Bedingungen nicht gleichgezogen. Eine drückende Langeweile ist allerorten zu spüren. Die Entfernungen sind zu weit, als dass man sie zu Fuß zurücklegen könnte. Die Menschen leben in den eigenen vier Wänden, in der Anonymität ihrer seelenlosen Wohneinheiten. So hält Brasília auch den Scheidungsrekord im Land. Das, was der Schmelztiegel aller sozialen Klassen sein sollte, hat seinen Inhalt ausgeleert. Hohe Mieten und gestiegene Lebenshaltungskosten haben die Mittelloseren aus der Stadt verjagt. Sie gesellten sich zu denjenigen, die schon vorher in den provisorischen Lagern der eigentlichen Erbauer Brasílias, der einfachen Bauarbeiter, hausten. Sie haben Armenviertel errichtet, von jenen bewohnt, die trotz allem noch auf Arbeit hoffen und sich um die ideologischen Betrachtungen und städtebaulichen Probleme nicht scheren. Auf diese Weise kommt eine Einwohnerzahl von über 1,5 Millionen, einschließlich der Satellitenstädte, statt der ursprünglich vorgesehenen 400.000 bis 500.000 Menschen zusammen.
Es fällt nicht leicht, auf die Schnelle ein Urteil über diese (gottlob?) einzigartige Erfahrung im Städtebau zu fällen. Die architektonische Kühnheit der öffentlichen Gebäude und der Monumente verblüfft in der Tat. Die hier geborenen Kinder gewöhnen sich, im Gegensatz zu ihren Eltern, rasch an ihre Retortenstadt, da sie nichts anderes kennen. Heranwachsende beurteilen heute die Anlage Brasílias weit weniger negativ als noch vor zehn Jahren. Für sie wäre es die Hölle, in Sao Paulo leben zu müssen. Die Vorstellungen von Stille, Freiraum und sauberer Umwelt sind ihnen in ihrem Lebensrahmen unabdingbar geworden.
Im Gegensatz zu anderen Großstädten ist Brasília die einzige, die in der Horizontalen lebt. Hier besitzt jeder ein Stückchen Garten, ob er nun reich oder arm sein mag. Die widersprüchlichen Reaktionen, die Brasília hervorruft, sind eigentlich ohne große Bedeutung; wichtig ist die Faszination, die diese Zukunftsstadt aus der Vergangenheit ausübt.