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Favelas

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Die andere Seite Brasiliens

Ghetto-Einwohner

Als fester Bestandteil des brasilianischen Lebens hat die favela leider etwas Banales, Alltägliches angenommen, was die Bedeutung dieses sozialen Mißstandes zu verharmlosen droht. Die favelados sind zum großen Teil Opfer der im Nordeste vorherrschenden Trockenheit oder von den fazendeiros und den großen landwirtschaftlichen Konzernen vertriebene Bauern. Sie schlagen sich bis zu den Außenbezirken der Millionenmetropolen durch, errichten dort ihre Hütten aus Brettern und Kartons im Dreck der Mülldeponien oder auf Pfählen im fauligen Wasser der Lagunen. Die Favelas wachsen mit einer aberwitzigen Geschwindigkeit. Einige Zahlen: vor dreißig Jahren zählte man im Bundesstaat Rio einen Slumbewohner auf vierzehn Einwohner; heute ist das Verhältnis eins zu vier, möglicherweise sogar eins zu drei. Die Hütten werden nachts errichtet, um Unannehmlichkeiten, wie etwa dem Wiederabriß, zu entgehen.

Anfangs ließen die Behörden es einfach geschehen, da sie für die Wohnungskrise keine Lösung anbieten und dem Zustrom der verarmten Bauern nicht Einhalt gebieten konnten. Als das Phänomen dann größere Ausmaße annahm, begannen sie, die Favelas »plattmachen« zu lassen (im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich mit der Planierraupe), vor allem im Zusammenhang mit lukrativen Grundstücksgeschäften. Armut wurde und wird in Brasilien nicht selten dadurch »bekämpft«, dass man sie aus dem Gesichtsfeld der Bessergestellten und nicht zuletzt der Urlauber zu verdrängen trachtet: Straßenkinder werden als Freiwild betrachtet, und im Falle der Elendssiedlungen geschah dies, wie angedeutet, mit der Planierraupe.

Die aus ihren angestammten Wohnbezirken Rios vertriebenen Arnmen zogen auf die Hänge der morros. Hatten sie dann auch regelmäßig unter starken Regenfällen und Erdrutschen zu leiden, so »entschädigte« sie dafür die Nähe des Meeres und ein wunderschöner Ausblick, worum sie die wohlhabenden Bürger der Stadt beneideten. Stiegen die Grundstückspreise, so warfen die Baulöwen ein Auge auf die Favelabewohner. In den letzten zwanzig Jahren verschwanden auf diese Weise einige Dutzende Favelas, teilweise auch durch Brandstiftung, wenn es besonders schnell gehen sollte. Das Problem der Favelas bleibt unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen jedoch praktisch unlösbar, da sie schneller wachsen als sie zerstört werden. Überdies werden die Favelados in düstere Stadtteile mit Sozialwohnungen umgesiedelt und sind dann gezwungen, täglich vierzig bis fünfzig Kilometer unter unzumutbaren Umständen zurückzulegen, um zur Arbeit zu gelangen. So erstaunt es nicht, dass sie alles daran setzen, um in ihre Favela zurückzukommen.

Kampf um Wasser, Kanalisation und Elektrizität

Man muß sich einmal den unglaublichen Mut und die Anpassungsfähigkeit der Favelados vor Augen halten. Sie haben es trotz erbärmlicher Ausgangsvoraussetzungen und qualvoller Enge geschafft, sich irgendwie zu arrangieren und das Leben einigermaßen erträglich zu gestalten. In manchen Favelas kämpfen die Bewohner gemeinsam um fließendes Wasser, um Kanalisation und Elektrizität. In Rio beispielsweise, in der 30.000 Einwohner zählenden favela de Borel, eine der kämpferischsten, unterhalten Einwohner eine comissâo de moradores (Stadtteilkommission), die sich um die Probleme der favela und die Verhandlungen mit den Behörden kümmert. Die Stadtteilkommission richtete ein Jugendzentrum ein, das den Jugendlichen ein breites Angebot an Aktivitäten und sogar Werkstätten für eine Berufsausbildung anbietet. Momentan bemüht sie sich um die Gründung einer eigenen Zeitung. Die Solidaritätsbekundungen unter den Favelados sind zahlreich. Ein alter Mensch fühlt sich dort niemals einsam, und einer kranken Mutter nimmt man die Kinder ab. Als wir Borel einen Besuch abstatteten, veranstalteten die Bewohner gerade eine Sammlung, um einer Familie zu helfen, deren arbeitsloser Vater gestorben war und die das Geld für die Beerdigung nicht aufbringen konnte.

In der Favela do Vigidal, zwischen Leblon und Sâo Conrado, wurden ein kleines Theater und eine Schule errichtet. Gut ausgebildete Frauen erteilen den Kindern Unterricht, und eine Gruppe hütet die Kinder der berufstätigen Frauen.

Warnung: sich nie alleine in eine Favela wagen! Mal ganz abgesehen von dem unvermeidlichen und unangenehmen Gefühl, ein Voyeur zu sein, wäre so etwas zu riskant. Sich zumindest von einem brasilianischen Bekannten begleiten lassen, der dort die richtigen Leute kennt. Andernfalls ganz auf das Favela-Abenteuer verzichten!