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Die Spiele der Brasilianer

Das Jogo do bicho

An vielen Straßenecken in den Innenstädten konnte man jahrelang Männer – meist ehemalige Strafgefangene, Rentner oder Behinderte – beobachten, die, auf Stühlen sitzend, Notizblock und Stift in der Hand halten und für das Jogo do bicho auf Kundschaft warten.

Das »Tier-Spiel« besteht darin, illegale Parallelwetten in beliebiger Höhe auf Tiere abzuschließen, und zwar nach dem gleichen Prinzip wie die staatliche Lotterie. Dieses Spiel wurde um 1870 von Graf Drummond erfunden, um Geld für die Umgestaltung des städtischen Zoos in Rio einzutreiben. Die Idee wurde dann heimlich von einer Art Glücksspielmafia wieder aufgenommen. Jeder spielt (oder spielte?) es, egal ob reich oder arm. In Rio stellt (oder stellte?) das Jogo do bicho längst eine regelrechte Institution dar, und der Polizei lag – aus gutem Grund, wie sich später herausstellen sollte – nichts daran, es zu verbieten. Verteilten die reichen Bicheiros an der Spitze dieser illegalen Wettgeschäfte nicht großzügige Schmiergelder an die hochrangigsten Persönlichkeiten innerhalb von Polizei und Politik? Außerdem machten sie für die Sambaschulen reichlich Moneten locker – die Ausstattung einer großen Schule für den Hauptumzug beläuft sich locker auf über hunderttausend Dollar. Die Bicho-Könige oder Banqueiros – ihr Umsatz belief sich im Großraum Rio angeblich monatlich auf mehrere Millionen Mark und sie sicherten nebenbei den Lebensunterhalt für Hunderttausende Einnehmer, Aufpasser, Bezirksbosse, Leibwächter usw. – gebärdeten sich in ihren klar abgegrenzten Vorstadtbezirken wie Mafiapaten und fühlten sich der Gemeinschaft auch in sozialer Hinsicht verpflichtet: hier öffneten sie ihre Schatulle für eine Hochzeit oder Beerdigung, dort ermöglichten sie ein Studium oder spendeten für die Prothese eines Invaliden. Eigentum verpflichtet eben, auch illegal erworbenes. Klar, dass solche Persönlichkeiten unter den einfachen Leuten fast als Heilige verehrt wurden. Kein Brasilianer wäre noch vor wenigen Jahren auf den Gedanken verfallen, es könnte bei den Wetten nicht mit rechten Dingen zugehen: die Bicheiros standen bis 1994 im Ruf unbedingter Ehrlichkeit und genossen jenes Vertrauen, das Polizei, Politiker und Behörden längst verspielt hatten.

Ob 1994 mit der Blitzaktion der Justiz das Totenglöcklein für das Jogo do bicho geläutet hat, wird sich erweisen. Seit nämlich der »Pate« der Glücksspielmafia, der Rechtsanwalt (!) Castor de Andrade, flüchtig ist, ist es um den Mythos der Unantastbarkeit geschehen. Bei ihm handelte es sich um den heimlichen Herrn Rios, denn bei der Durchsuchung des Lotterie-Hauptquartiers fanden sich die Namen von über zweihundert Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Medien, die sich allesamt hatten kaufen lassen. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich wieder einmal, wie korrupt das politische System des Landes ist. »Wie geschmiert« lief in Brasilien aber schon lange nichts mehr, Voraussetzung dafür, dass sich an den Verhältnissen vielleicht doch etwas ändern lassen könnte ...

Fußball

»Jede Annäherung an die brasilianische Kultur ist notwendigerweise mit dem Fußball verbunden«. Wer einmal mit Brasilianern über die identitätsstiftende, alle Klassenschranken überwindende Sportart gesprochen hat, wird diesen Satz uneingeschränkt unterschreiben können. Fußball spielte in Brasilien immer auch eine politische Rolle, z.B. als er zur Zeit der Diktatur von den Militärs im nationalistischen Sinne instrumentalisiert wurde: 1970 überschlug sich der General Medici in patriotischem Gestammel von »sportlicher Brüderlichkeit« und »nationalem Kampf«, als Brasilien seinen dritten WM-Sieg feiern durfte. Sogar Pelé wurde vor die Propagandamaschine gespannt, als überall im Land Poster auftauchten, auf denen das Fußballidol von chauvinistischen Sprüchen untermalt war. Neben soziologischen Aspekten und den gerade geschilderten Auswüchsen stehen aber brasilianische Lebensfreude und Ästhetik im Vordergrund, sobald das Leder in Richtung auf das gegnerische Tor unterwegs ist. Der wirtschaftliche Niedergang Brasiliens macht freilich auch vor den Stadionkassen nicht halt: die Zuschauerzahlen sind rückläufig, Sportstätten werden geschlossen und begabte Spieler wandern nach Europa ab.

Man kann natürlich des Spektakels wegen ins Stadion gehen – aber dann nur auf den Rängen einen Platz nehmen. Vorsichtshalber in der Gruppe zum Spiel pilgern, da es rund um Fußballbegegnungen gefährlich werden kann. Außerdem sollte man es vermeiden, das Trikot einer der Mannschaften zu erstehen, da man sonst Gefahr läuft, eine Tracht Prügel von den Anhängern der gegnerischen Elf einzuheimsen!