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Verkehrs-Anarchie?

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Sizilianische Fahrstunde

Flexibilität ist Trumpf

Regeln sind dazu da, um sie zu umgehen

Wer nicht ständig unangenehm auffallen möchte, sollte sich einige Grundregeln italienischer »Fahrkunst« zu eigen machen. Zunächst einmal heißt das, liebgewordene Gewohnheiten, im theoretischen Fahrunterricht mühsam erworbene Kenntnisse und langjährige Reflexe zu vergessen. Regel Nr. 1: sich so genau wie möglich an die örtliche »Straßenverkehrsordnung« halten. Sizilianische Autofahrer befolgen nämlich eine eigene, und da wir hier die ausländischen Gäste sind, haben wir uns ohne Murren danach zu richten. Wäre auch zuviel verlangt, wenn sich die Einheimischen an unseren Fahrstil anpassen müßten. Also, leicht überspitzt:

  • Lektion 1: alles deutet darauf hin, dass Haltesschilder in Italien lediglich dekorativen Zwecken dienen. Das bedeutet für uns keinesfalls, diese naßforsch zu überfahren; man sollte sie halt nur in moderater Weise befolgen, um den Verkehrsfluß nicht unnötig zu stören. Die Italiener rechnen eben nicht damit, dass jemand vor einem Halteschild die Räder zum Stehen bringt, obwohl weit und breit kein vorfahrtsberechtigter Verkehrsteilnehmer in Sicht ist. Apropos Vorfahrt: die steht eh nur auf dem Papier. Alles eine Frage des Kräfteverhältnisses und des gesunden Menschenverstandes! Jeder italienische Verkehrsteilnehmer weiß genau, bis wohin er gehen kann, wo die äußerste Grenze angesiedelt ist. Fußgänger und Radfahrer können ein Lied davon singen und lernen schon früh, dass, wer brav stehenbleibt, nie über die Straße kommt. Sich also in die vielbefahrende Straße »hineintasten« und – oh Wunder! – statt sich wilder Gesten mit ausgestrecktem Zeigefinger zu befleißigen, weichen die Autofahrer einfach aus. Für diese zählt allein der siebte Sinn für die richtige Entscheidung im rechten Augenblick, was ständige Wachsamkeit erfordert. Aus demselben Grund werden in Italien auch nicht mehr Kinder an Zebrastreifen oder der Fußgängerampeln überfahren als bei uns: sie sind eben mißtrauisch und verlassen sich nicht auf ihre Vorrechte.
  • Lektion 2: Rückspiegel sind überflüssiges Zubehör. Was zählt, ist das Geschehen vor uns, ausgehend von dem Grundsatz, dass jedem Autofahrer mit Mißtrauen zu begegnen ist, der die Frechheit besitzt, uns vor der Nase herumzugondeln.
  • Lektion 3: sooft hupen wie irgend möglich! Dafür spricht nicht nur die allen Menschen innewohnende Befriedigung beim Erzeugen von Lärm. Hupen kann und soll man etwa, wenn man vor einem Stop-Schild anhält, wenn man seine Vorfahrt wahrnimmt, um beim Rückwärtsausparken mitzuteilen, dass man kommt, um sich an unübersichtlichen Stellen schon mal anzukündigen, wenn man nicht aus den Startlöchern kommt oder man einem Kumpel mal kurz »Guten Tag« sagen möchte, wegen nichts und wieder nichts, aus Spaß an der Freude ... Gelassen bleiben, denn es handelt sich um einen ehrwürdigen Ritus und nicht um einen erhobenen akustischen Zeigefinger wie bei uns, dem bei Eskalation Vogelzeigen und Strafanzeige zu folgen pflegen. Die italienischen Autofahrer führen sich nicht als Hilfssherrifs auf wie ihre Kollegen nördlich der Alpen. Sie ärgern sich allenfalls darüber, wenn wir nicht schneidig genug reagieren, und helfen dann schon mal mit einem kurzen Stupfer auf die Hupe nach. Lebenswichtig für Fußgänger: nicht bei jedem Hupen kopflos zur Seite springen, wodurch man sich erst recht in Gefahr bringt. Merke: harmloses Hupen bedeutet normalerweise nur »Achtung, ich komme!«
  • Lektion 4: italienische Zweiradfahrer sind geborene Akrobaten und setzen ihren ganzen Ehrgeiz daran, möglichst viele Familienmitglieder auf einmal zu befördern. Drei oder dreieinhalb auf einem Motorroller, zwei und ein Baby plus Katze auf dem Lenker eines gewöhnlichen Mopeds – das ganze ohne Helm, versteht sich – sind keine Besonderheit. Keine Panik: die können´s wirklich.
  • Lektion 5: eigentlich müßte es in Siziliens Städten am laufenden Band krachen und scheppern. Weit gefehlt! Das Geheimnis des italienischen Verkehrs ist keines mehr, wenn man sich den aggressionsarmen Umgang der Verkehrsteilnehmer vor Augen hält, ihre Entscheidungsfreude, ihre Fähigkeit, Kräfteverhältnisse blitzschnell in ein bestimmtes Handeln umzusetzen, ihren Respekt vor einer gewissen stillschweigenden Übereinkunft, mangels anerkannter Regeln und Verbote. Insgesamt findet mehr Augenkontakt zwischen den Verkehrsteilnehmern statt, was zusätzlich den Verkehrsfluß verlangsamt und so für Sicherheit sorgt.

    Früher oder später wird man sich an diese »Vernunftanarchie« gewöhnen, gewisse Freiheiten vielleicht sogar schätzen lernen und die Ablehnung starrer Regeln begrüßen. Ohne Helm oder unangeschnallt unterwegs zu sein, sollten wir freilich jenen Zeitgenossen überlassen, die nichts mehr zu verlieren haben. Auch die augenzwinkernde Mißachtung der Polizeiautoriät gefällt uns. So haben wir etwa T-Shirts gesehen mit einem quer über die Brust verlaufenden schwarzen Band als »Sicherheitsgurt«. Da würden unsere grünen Uniformträger aber Augen machen ... Italienische Polizisten kümmert´s nicht, sie sparen sich ihre Kraft für ernsthafte Verstöße. Ein ganzer Schwarm überladener Mopeds vermag bei ihnen nicht mal ein Zittern der Nasenflügel hervorzurufen. Schließlich sehen sie ihre Aufgabe nicht darin, Mitmenschen auf die Nerven zu fallen ...

    Soweit unsere kleine Einführung in die Geheimnisse des Straßenverkehrs. Wappnen wir uns mit einer guten Dosis Humor, passen wir uns an die Fahrweise unserer Gastgeber an, und schon erscheint das Gewühl in den Städten nurmehr halb so wild.