Chinatown
Flair eines asiatischen Basars
Ein Paradies für Sinologen
Asiaten im Goldrausch
Die Chinesen hatten sich nach dem Erdbeben flugs an den Aufbau ihres Stadtviertels gemacht, um Plänen im Rathaus mit dem Ziel, ihre Wiederansiedlung an alter Stelle zu vereiteln und sie auf billigeren Grund abzuschieben, zu durchkreuzen. Gewußt gewollt, war ein etwas bühnenhafter Stil, um dem Viertel das Flair eines asiatischen Basars zu verleihen. Man achte auch mal auf die Telefonzellen im chinesischen Stil. Zwei finster dreinschauende Steinlöwen flankieren das Tor zur Chinatown bei Bush Street und Grant Avenue. Dahinter erstreckt sich über acht Blocks eine exotische, in sich abgeschlossene Welt, in der Kenner bis zu vier chinesische Mundarten hören können. Ein wahres Paradies für Sinologiestudenten! Die Straßen sind eng und überfüllt mit chinesischen Schulkindern, Händlern und steinalten Zeitungsverkäufern, die übrigens mörderisch zu zetern anfangen, wenn sie bemerken, dass sie fotografiert werden. Man bringe einen Zoom mit an den Tatort! Die Häuserzeilen sind vollgepackt mit Restaurants, Geschäften und Bars.
Mal einen Blick auf die höheren Etagen werfen: Hier kann man sich ein Bild machen, in welchem Elend die ersten Generationen der chinesischen Einwanderer hausten. 1847 kamen die ersten Männer aus dem Fernen Osten, um hier, wie viele andere in der Stadt, am Ende des Regenbogens mit Gold ihr Glück zu machen. Nur wenige Glückspilze durften als reiche Männer nach Hause zurückkehren. Die meisten sahen ihre Heimat aus Scham oder Armut nie wieder. So arbeiteten sie zu Tausenden in den kalifornischen Goldbergwerken oder legten Gleise für die Central- und South Pacific Eisenbahngesellschaft. Sie verhalfen, wie die schwarze Bevölkerung, der Neuen Welt zu ihrem Reichtum, da sie mit Hilfe rassistischer Propaganda als billige Arbeitskräfte ausgebeutet wurden. Chinatowns, heutzutage eine amerikanische Touristenattraktion, sind ehemalige Ghettos, in denen die Chinesen durch rassistische Gesetze von der weißen Bevölkerung gepfercht wurden. Erst 1947 gestattete man den Chinesen Immobilienerwerb außerhalb ihres Viertels. Obgleich einschränkende Gesetze den chinesischen Männern bis 1965 verboten, ihre Familien nachkommen zu lassen, riß der Einwandererstrom nicht ab. Als China während des Zweiten Weltkriegs Verbündeter der USA wurde, verbesserten sich die Lebensbedingungen der amerikanischen Chinesen erheblich. Erst 1965 erleichterte man den Zuzug chinesischer Einwanderer, was ihre Anzahl von fünfzigtausend Einwohnern verdoppeln und Chinatown aus allen Nähten platzen ließ. Viel Chinesen siedeln nun um Clement Street, wo vorher schon Russen und Ihren Fuß gefaßt hatten.
Mit fast dreizehn Prozent stellt die chinesische Bevölkerung die größte ethnische Gruppe in San Francisco und gehört mit Vancouver und New York zu den größten asiatischen Gemeinden außerhalb Asiens. Das Leben in den engen, von allerlei exotischen Düften und Geräuschen durchfluteten Straßen erinnert an das emsige Treiben eines Bienenstocks. Man lasse sich also Zeit in Chinatown, insbesondere beim Einkauf. Vieles, was auf den ersten Blick so unverwechselbar und exotisch aussieht, gibt es auf der anderen Straßenseite für den halben Preis. Neben einer Menge Touristenramsch aus Hongkong finden sich erlesenes Kunsthandwerk, schimmernde Seidenstoffe, Jade, handgeschnitzte Antiquitäten, feines Porzellan und dergleichen.
Das Viertel leidet unter Überalterung ein Viertel der Bewohner ist über sechzig Jahre und ist immer noch das dichtbesiedeltste der Stadt. In zahllosen Hinterhöfen und engen Gassen wird emsig gewerkelt, genäht und gebacken.
Bekannt ist das Viertel auch wegen der »tongs«, den Vereinigungen chinesischer Sippen, ursprünglich Selbsthilfegruppen, die wegen der tatsächlichen Rechtlosigkeit der Chinesen auch bald Schutzfunktionen übernahmen und sich mit Banden von »Angelos« bald Kämpfe lieferten. In den späten fünfziger und sechziger Jahren ließen diese wurzellosen jugendlichen Späteinwanderer noch allerlei schmutzige Geschäfte bei Glücksspiel, Zuhälterei usw. für sich erledigen. Höhepunkt der Bandenkriege war das Massaker im Golden Dragon in den Siebzigern mit mehreren Toten. Heute sind die »tongs« kaum mehr als Wohltätigkeitsvereine.