Unabhängigkeit
Präsident plant modernen Staat
Alphabetisierung folgt Unabhängigkeit
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wächst in Tunesien eine nationalistische Bewegung heran, die sehr bald einem gewissen Habib Bourguiba zu gemäßigt erscheint. Dieser kehrt der alten nationalistischen Destour-Partei den Rücken und gründet 1934 den Neo-Destour. Bourguiba wird wiederholt von den französischen Behörden eingebuchtet, seine Zeitung »La Nation« gerät immer wieder auf den Index. Bourguibas flexible Taktik gegenüber der Kolonialmacht Frankreich führt Tunesien im März 1956 in die Unabhängigkeit. Am 25. Juli 1957 proklamiert er die Tunesische Republik und beginnt sein ehrgeiziges Vorhaben, Tunesien in einen modernen Staat zu verwandeln, indem er seinen Landeskindern gesellschaftlichen Fortschritt verordnet. Der »Vater der Nation« konsolidiert die Unabhängigkeit Tunesiens und errichtet ein modernes Staatswesen, indem er zur islamischen Religion auf Distanz geht. Es gelingt ihm sogar, ein für die muslimische Staatenwelt revolutionäres Zivilgesetzbuch durchzudrücken. Die Frau wird darin dem Mann gleichgestellt. Als gleichberechtige Mitbürgerinnen dürfen Frauen 1957 zum ersten Mal an den Wahlen zu den Gemeindeorganen teilnehmen. Polygamie wird zur Ausnahme von der Regel, die Möglichkeit, sich scheiden zu lassen, akzeptiert und eine Abtreibung in bestimmten Fällen erlaubt. Habib Bourguiba selbst zögerte übrigens nicht, sich von seiner Frau zu trennen und seine neue Lebensgefährtin Wassila Ben Ammar zu ehelichen. Aber auch dieses Glück währte nicht lange. Alle diese Entscheidungen sind Bestandteile seiner »ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungspolitik mit dem Ziel, die Menschen des Landes moralisch und materiell voranzubringen«.
Die Rückseite der Medaille: mit seiner Alphabetisierungspolitik sieht sich Bourguiba, immer das Ziel der Seßhaftigkeit der nomadischen Bevölkerung und die Durchsetzung der Schulpflicht vor Augen, mit einer Verzehnfachung der Schülerzahlen zwischen 1951 und 1971 konfrontiert. Damit begann sich das Gespenst der Jugendarbeitslosigkeit am Horizont abzuzeichnen. Dessen ungeachtet läßt sich der Präsident, dessen Amtszeit fünf Jahre beträgt, für drei Amtsperioden hintereinander bestätigen, bevor er sich 1974 zum »Präsidenten auf Lebenszeit« erklärt. Er ist damals bereits achtundsechzig Jahre alt. Gesellschaftliche Erschütterungen blieben dem Land nicht erspart (1978, 1980 und Januar 1984), aber die Entwicklung ist wohl nicht mehr aufzuhalten. Die letzten Jahre der Ära Bourguiba waren indessen von einer gewissen politischen Kurzatmigkeit geprägt, nicht zuletzt wegen des beschleunigten gesundheitlichen Verfalls des Präsidenten. Er gibt sich launisch, autoritär und terrorisiert mit Wutausbrüchen seine Umgebung. Mißtrauisch geworden, bald apathisch, bald übererregt, dämmert er im Zustand einer permanenten manisch-depressiven Psychose vor sich hin. Ein Infarkt und eine beginnende Lähmung verschlimmern seinen Gesundheitszustand, aber Bourguiba klebt beharrlich an seinem Amt. Ein Präsident auf Lebenszeit, der auf Funktionen nicht verzichten möchte, die er einfach nicht mehr ausfüllen kann. Seine Frau, die sich dessen bewußt ist und ihm rät, sich von seinem Amt zurückzuziehen, fällt auf der Stelle in Ungnade und wird der Verschwörung beschuldigt.
Die Regierungsgeschäfte waren derweil zum Erliegen gebracht und die einflußreichsten Minister verwandten ihre Zeit darauf, um die Gunst des großen alten Herrn zu buhlen. Aus den manipulierten Parlamentswahlen im November 1986 ging die sozialistische Destour-Partei Bourguibas als Sieger hervor. Nach harten Gerichtsurteilen gegen islamische Fundamentalisten beschloß Tunesiens Premierminister General Ben Ali im Einvernehmen mit zahlreichen Ministern ein Jahr danach, den greisen Staatspräsidenten sanft, aber nachdrücklich in den verdienten Ruhestand zu befördern.
Per Verfassungsdekret, das die Unterschrift seines Premierministers trägt, wird Bourguiba am 7. November 1987 abgesetzt.