Kosmopolitische Bibliothek
Die kosmopolitische Bibliothek
Da gibt es ferner das Ägypten der Literaturklassiker, gelesen und wiedergelesen. Ihre Helden bevölkern unsere geistige Vorstellungswelt fast schon wie Familienangehörige. Zuallererst die biblischen Geschichten: die Leiden des Joseph, die Abenteuer Mose, der am Nilufer gefunden wurde, die zehn ägyptischen Plagen, die Flucht durch das Rote Meer.
Auch muß nicht wiederholt werden, mit welcher Wortgewalt, welchem Bilderreichtum Lawrence Durrell in seinem Quatuor Alexandria zum Leben erweckt, in dem Mythos und Realität untrennbar miteinander verwoben sind. Alexandria, dessen verführerischer Zauber jene Schriftsteller überwältigte, die hier ein und aus gingen: die beiden Griechen Constantin Cavafy und Stratis Tsirkas ebenso wie die Italienerin Fausta Cialiente aus Triest, die der undurchschaubaren Orientalin in ihrer vorrevolutionären Pracht begegnete.
Die zeitgenössischen Ägypter sind erst spät auf den Roman gekommen. Man ist geneigt, zuerst das wunderbare Tagebuch eines Staatsanwalts auf dem Lande von Taufik al-Hakim zu nennen, obwohl es sich im Grunde um einen Augenzeugenbericht ohne jede Beschönigung handelt, ein ergreifendes Tableau dörflicher Existenzbedingungen in den dreißiger Jahren. In romanhafterer Form beschreibt Das Tagebuch von Taha Husain die schmerzlichen Lehrjahre eines blinden Kindes in der Koranuniversität al-Azhar, bevor es zum Studium nach Paris geht. Albert Cossery verbrachte den größten Teil seines Lebens in Paris und schrieb nur auf Französisch. Trotzdem bewahren die turbulenten Abenteuer seiner Heldenfigu-ren (Mendiants et Orgueilleux, Les Fainéants dans la vallée fertile) einen zutiefst ägyptischen Charakter.
Der Literaturnobelpreisträger von 1988, Nagib Machfus, geboren 1911, wird inzwischen auch ins Deutsche übersetzt. Er bleibt einer der besten Repräsentanten des ägyptischen Romans, obwohl inzwischen eine neue Autorengeneration herangewachsen ist. Er ist ein hellsichtiger Beobachter seiner Zeit. Sein jüngstes Werk Die Kinder unseres Viertels durfte bis heute in Ägypten nicht als Buch erscheinen. Wegen der angeblichen Verhöhnung religiöser Werte wurden gegen den Autor sogar Morddrohungen laut. Konservative Kreise legen es als Angriff auf die Gründer der drei Weltreligionen aus. Dabei geht es in diesem Roman gar nicht in erster Linie um Glaubensdoktrinen, sondern vielmehr um ein gleichsam ewiges Auflehnen gegen immer wieder praktizierten Machtmißbrauch. In 114 Kapiteln (soviele Suren zählt der Koran) werden die Geschichten von Adam und Eva, Kain und Abel und den Stiftern der drei monotheistischen Religionen erzählt. Doch die Figuren sind trotz beziehungsvoller Ähnlichkeiten keine deckungsgleichen Personifizierungen der großen geheiligten Gestalten. Machfus gibt keinen Anschauungsunterricht in Sachen Religionsgeschichte. Er läßt Freiräume für vielfältige Deutungen, und der Roman ist denn auch sehr kontrovers interpretiert worden. Man verstand ihn als Heilsgeschichte der Menschheit, als Parabel auf autoritäre Machtstrukturen in der arabischen Region, sogar als Aufruf zur wissenschaftlichen Deutung der Welt. Man kann ihn aber genausogut als spannende Erzählung über ein volkstümliches Stadtviertel Alexandriens lesen. Das Hausboot am Nil, ein weiterer Roman Machfus´ aus dem Jahre 1966, vermittelt ein sensibles Bild der tiefen Enttäuschung unter den ägyptischen Intellektuellen, die sich in den sechziger Jahren allzu großen Illusionen über eine rasche Veränderung der Gesellschaft unter Nasser hingegeben hatten.
Die Bemühung um einen unverwechselbar arabischen Stil sehen wir besonders deutlich bei Gamal al-Ghitani, geboren 1945. In seinem großen Roman Seini Barakat entdeckt man zahlreiche Stilmittel historischer Texte, vor allem aus der Mamelukenzeit. Der Autor hält den aus unterschiedlichen Genres gemischten Text geradezu für die arabische Erzählform schlechthin. Der Roman spielt im 16. Jh., zur Zeit des Untergangs der Mamelukenherrschaft. Er ist aber nicht als historischer Roman, sondern als eine Parabel auf die Nasser-Ära oder im allgemeineren Sinne auf alle nur denkbaren Überwachungssysteme eines totalitären Staates zu verstehen. Die gleichen Stilmittel kennzeichnen auch seinen erst kürzlich in Deutsch erschienenen Roman Der safranische Fluch. Das 1976 geschriebene Werk ist eine Sammlung banaler und haarsträubender Geschichten, zusammengehalten durch einen pikanten Einfall: den safranischen Fluch der Impotenz.
Die Auseinandersetzung mit der Moderne findet auch in den Romanen von Yusuf Idris und in den Novellen von Nabil Naoum statt. Und ungezählten anderen haftet etwas von Ägypten an, weil sie dort geboren sind oder dort gelebt haben, auch wenn das Schicksal sie längst woanders hin verschlagen hat: Giuseppe Ungaretti, Georges Henein, Joyce Mansour, Edmond Jabès.
Unter den Neuerscheinungen seien zwei Romane erwähnt: Safranerde von Edwar al-Charrat, geboren 1926, der sich als koptischer Christ sehr frei in der Kulturtradition bewegt und das Alte und Neue Testament genauso miteinbezieht wie den Koran, die mittelalterliche arabische Literatur und die griechische Antike. Ferner Wüstenwölfe von Sabri Musa, geboren 1932, wo der ägyptische Roman geradezu mystisch-magischen Boden betritt die Wüste und die Beduinenwelt.