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Um ad-Dunia

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Kairo

Die Sonne nimmt die Stadt mit sich fort,

Man sieht sich nicht mehr.

Giuseppe Ungaretti

Um ad-Dunia: Mutter der Welt

Um ad-Dunia, Mutter der Welt, aber auch Al-Qahira, die Siegerin, oder Masr,
der arabische Name für Ägypten: so lauten die Namen der afrikanischen Riesenstadt
Kairo. Obwohl die übrigen arabischen Staaten Kairo nach den Friedensverträgen
von Camp David mit dem Bannstrahl belegten, ist es doch die Hauptstadt der islamischen
Welt. Zudem handelt es sich um eines der bemerkenswertesten Ensembles islamischer
Architektur zwischen Maghreb und Nahem Osten. In dieser Hinsicht steht Kairo
Städten wie Fez oder Damaskus in nichts nach, aber man vergißt es allzu häufig,
denn seine zwischen der Eroberung Amrs und der mamelukischen Zeit errichteten
Gebäude haben so viele Veränderungen durchgemacht, sind heute in ein so enges
städtisches Gefüge eingebunden, so gänzlich eingezwängt, dass sie manchmal beinahe
verschwinden. Kairo, das 1969 seinen tausendsten Geburtstag feierte, ist das
Gegenteil einer Museumsstadt: antike Stadtviertel finden heute eine neue Bestimmung.
Das extremste Beispiel ist das der riesigen Totenstadt, die nach und nach von
obdachlosen Lebenden besetzt wurde, die nirgendwo sonst eine Bleibe fanden.

Kairo verführt nicht auf Anhieb durch augenfällige Schönheit: sein Reiz ist
ein versteckter, der entdeckt sein will, um später Heimweh nach ihm zu haben.
Manche werden ihn nie ergründen: diejenigen, für die sich alles auf ein schemenhaftes
Dekor hinter den getönten Scheiben eines klimatisierten Bus-ses reduziert; diejenigen,
die von Lärm, Menschenmengen und Staub erschreckt und abgestoßen werden.

Kairo leidet in der Tat an Mißständen und Umweltschäden, wie alle Hauptstädte
der Entwicklungsländer. Von zwei Millionen Einwohnern 1950 ist es bis zum Ende
der achtziger Jahre auf dreizehn Millionen angewachsen, mit all den schier unlösbaren
Problemen, die eine solche Entwicklung nach sich zieht: Überbevölkerung, Verkehrskollaps,
Verschmutzung. Verschwunden sind die Milane, die bis vor kurzem über der Stadt
ihre Kreise zogen: kein Wunder, ist doch die vor allem durch Auspuffgase verursachte
Luftverschmutzung hier mit am schlimmsten auf der ganzen Welt.

Wer sich dennoch nicht scheut, die aufgewühlten Gehsteige zu beschreiten und
sich in die Menge zu stürzen, wird nach und nach Kairos Stimmung in sich aufnehmen.
Zwei grundlegende Merkmale dienen einem besseren Verständnis der Stadt: einmal
ist Kairo von Wüste umgeben, daher der allgegenwärtige Staub, der sich auf Straßen
und Hausfassaden legt und den Blättern der Bäume eine gräuliche Färbung verleiht.
Ferner, dies war allerdings nicht immer so, ist es heute eine um den Nil herum
zentrierte Stadt; diese Lebensachse verleiht ihm eine Größe und Würde, die es
ohne den Strom nicht hätte.

Bewegliche Topographie

Es wäre irrig zu glauben, die Umgestaltungen der Stadt seien auf die Bevölkerungsexplosion
der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückzuführen. Schon Nerval,
der hier fast ein Jahr verbrachte, beklagte das Verschwinden der alten Stadtviertel,
die durch moderne Verkehrsadern zerrissen wurden. Wenigstens blühten zu dieser
Zeit noch die Rosen in den Gärten von Shoubrah.

Kairo ist immer gewandert und seine Ursprünge sind im Süden zu suchen. Noch
hinter dem von Saladin für die Trinkwasserversorgung der Stadt errichteten Aquädukt
entwickelte sich eine erste Ansiedlung im Viertel von Fostat. Die Amr-Moschee,
älteste Moschee Ägyptens und heute über die Maßen restauriert, ist das bedeutendste
bauliche Zeugnis aus dieser Zeit. In Kasr al-Chama, unweit der Stätte des antiken
Babylon Ägyptens, stoßen wir auf die ältesten Spuren der Stadt. Hier ist das
Wesentliche der koptischen Kunst versammelt: die Kirchen des Hl. Sergius und
des Hl. Georg und vor allem die Moalakka-Kirche, »die Hängende, deren ausladende
Treppe zu ersteigen sich lohnt, um die mit großer Ausdauer intonierten Psalmen
der Messe zu hören. Aber auch das ansprechend hergerichtete Koptische Museum
befindet sich hier. Es birgt eine reiche Sammlung architektonischer Fragmente,
Statuen, Kultgegenstände und Stoffe aus allen Orten christlicher Frömmigkeit.
Alt-Kairo liegt ein wenig abseits des Nils, dessen Lauf hier leicht nach Westen
biegt, und hat etwas von der Beschaulichkeit früherer Tage bewahrt. So stößt
man am Ende einer schattigen Allee auf die ehrfürchtige Ben Ezra-Synagoge, noch
Hüterin einiger der wertvollen Pergamente, die in ihrer Gueniza gefunden wurden
und heute größtenteils in alle Winde verstreut sind.

Mit den Tuluniden verschob die Stadt im 9. Jh. ihren Schwerpunkt ´gen Norden,
in den Umkreis der Ibn Tulun-Moschee, deren schraubenförmiges Minaret in Ägypten
ohne Beispiel ist. Im historischen Viertel, das sie umgibt, stellte der englische
Major Gayer-Anderson vor dem Zweiten Weltkrieg zwei Gebäude aus dem 16. und
17. Jh. wieder her, die heute Teil des Museums für Islamische Kunst sind. Später
wurde der Bereich Al-Azhar zum Kern der Fatimidenstadt, geschützt durch Stadtmauern,
von denen noch einige monumentale Tore (Bab Suwela, Bab al-Nasr, Bab al-Futuh)
und die unter Saladin errichtete, vom Baustil der Kreuzfahrerzeit beeinflußte,
Zitadelle erhalten sind.

Erst im 18. Jh. dehnte sich die Stadt nach und nach in westlicher Richtung
aus. Zu der Zeit, da napoleonische Truppen in Ägypten standen, markierten der
Bezirk Asbakaia mitsamt der Gärten, in denen der französische General Kléber
ermordet wurde, das Herz der Stadt und blieben es lange Zeit: gleich nebenan
ließ der Khedive Ismail die hübsche Oper errichten, die anläßlich der Öffnung
des Suez-Kanals 1869 eingeweiht wurde und 1971 in Flammen aufging.

Nach und nach näherte sich Kairos Stadtgebiet wieder dem Nil. Die moderne,
oder wie man häufig sagt, europäische Stadt wurde zwischen Fluß und Altstadtvierteln
mit Hilfe breiter Schneisen im Haussmann´schen Stil angelegt. Die Straßen Talat
Harb (ehemals Soliman Pacha) und Kasr al-Nil bilden nach wie vor die Hauptverkehrsadern.
Sie werden heute von leicht abgeblätterten Cafés wie dem Groppi oder dem Américaine
gesäumt, deren Originaldekor der fünfziger Jahre eine Handvoll vor und viele
nach der Revolution Geborene empfängt.