Der Nil wird gestaut
Der Nil wird gestaut
Irgendwann mußte die Zeit kommen, da die Menschen sich unabhängig von der launischen
  Gottheit zu machen wünschten, der soviel Segen brachte, aber auch soviel Gefahr.
  Unter der Herrschaft Mohammed Alis begann man mit dem Bau des ersten Staudamms
  unterhalb von Kairo. Der Wasserfluß im Delta sollte konstant gehalten werden.
  Noch ehrgeiziger war das Assuan-Staudammprojekt der Briten im Jahre 1900, das
  den Nilverlauf durch ganz Ägypten regulierte.
1960 vertraute Gamal Abd al-Nasser ein neues, kolossales Bauvorhaben den Sowjets
  an. Es handelte sich um den Großen Staudamm oder Sadd al-Aali, den der Rais
  als sein Werk schlechthin betrachtete, als Symbol der unabhängigen, ägyptischen
  Nation. Als der erste Bauabschnitt beendet war, gab es keine Überschwemmung
  mehr; 1964 bedeckten die Nilfluten zum letzten Mal das Land. Seither fließt
  das Wasser ganzjährig unter menschlicher Kontrolle, zumindest theoretisch. Die
  Wasserschüttung wird je nach Bedarf erhöht oder vermindert. Dank stetiger Bewässerung
  hoffte man, den Anteil des Ackerlandes merklich zu vergrößern und somit den
  Nahrungsmittelbedarf der expandierenden Bevölkerung zu decken. Aber der Damm
  ist weiterhin Gegenstand heftiger und nicht immer objektiver Polemik. Im Rückblick
  auf sein zwanzigjähriges Bestehen erscheint ein abgewogenes Urteil über seine
  Vor- und Nachteile eher möglich. Auf der Habenseite: neue Anbauflächen in der
  Kellia-Region, am westlichen Deltarand und in der östlichen Scharkeja-Provinz.
  Gemessen an den Nachteilen erscheint dieser Gewinn jedoch fast kläglich. Tatsächlich
  müssen die Bauern seither nämlich auf die fruchtbare Schlammablagerung durch
  den Fluß verzichten und ersatzweise teuren Kunstdünger verwenden, dessen Handhabung
  obendrein die meisten überfordert. Die Kosten dafür belasten nicht nur die Privathaushalte,
  sondern auch den Staat, der den Dünger im Ausland mit Devisen bezahlen oder
  im eigenen Land zu Lasten der Stromversorgung herstellen muß.
Von der Energieseite her gesehen, haben die Wasserkraftwerke natürlich die
  Wirtschaft und die Lebensumstände in Ägypten von Grund auf verändert. In den
  siebziger Jahren wurden die meisten Dörfer an das Stromnetz angeschlossen. Seither
  brennen in den Häusern Glühbirnen statt Gas- und Petroleumlampen. Die Anschaffung
  elektrischer Pumpen befreite die Bauern vom Wasserschöpfen im Nil oder in seinen
  Kanälen. Noch immer scheint diese tausendjährige Tradition in der Volksmentalität
  fest verankert. Die Kraftwerke ermöglichten ferner eine fortschreitende Industrialisierung,
  namentlich in der Assuan-Region, in Nag Hammadi und Heluan, den neugeschaffenen
  Standorten der Schwer- und Stahlindustrie.
Unberechenbare Technik
Trotz ihrer ausgefeilten Techniken und Prognoseverfahren im Zusammenhang mit
  einem derart ehrgeizigen Projekt können sich die Menschen noch immer nicht als
  Herren über die Elemente und Naturphänomene begreifen. So mußte man bald feststellen,
  dass der Wasserstand im Stausee Sadd al-Aali unter den Berechnungen blieb, dass
  das Vorhandensein dieser riesigen Wasserfläche mitten in der Wüste unvorhersehbare
  ökologische Veränderungen zeitigte und dass der Staudamm an erheblichen Wasserverlusten
  durch Versickerung und Verdunstung litt.
Schlimmer noch: die jahrelange Trockenheit in Äthiopien hatten Spätfolgen für
  Ägypten. Obwohl das Land nicht unmittelbar von der Dürre betroffen war, spürt
  es jetzt die Nachwirkungen: seit 1986 ist der Wasserpegel so stark gesunken,
  dass die Behörden ernsthafte Gegenmaßnahmen erwägen, z.B. die Stromrationierung,
  zunächst auf dem Land, dann in den Städten. Außerdem soll die Bewässerung streng
  überwacht und ein Wasserpfennig eingeführt werden, um der Verschwendung vorzubeugen.
  Ohne derlei Vorkehrungen drohen der Industrie verheerende Einbußen. Jedenfalls
  wird deutlich, dass der Staudamm das Wasserproblem nicht völlig gelöst hat; und
  Wasser ist die Lebensgrundlage in Ägypten. Ohne Damm indes hätte sich die Lage
  in den achtziger Jahren höchstwahrscheinlich dramatisch zugespitzt. Wie auch
  immer  die Scheichs beten wie in alten Zeiten wieder um Regen.
		

