Wiedersehen
Wiedersehen mit Alexandria
Als Napoleon in Alexandria an Land ging, erwartete ihn nicht mehr als ein größerer
  Flecken mit ungefähr fünftausend Einwohnern. Die Ägypter hatten den Hafen aufgegeben
  und wickelten ihren gesamten Schiffshandel in Raschid (Rosetta) und Dumjat (Damietta)
  ab.
Mohammed Ali wollte Ägypten unbedingt wiederherstellen, dem Westen öffnen,
  und unter seinen zahlreichen Plänen fungierte auch die Wiedererweckung Alexandrias:
  er stattete es mit einem modernen Hafen und einem direkten Zugang zum Nil aus,
  indem er den Mahmudieh-Kanal schuf, der die Stadt von Süd nach Ost umgibt. Die
  unter dem Khediven Ismail fortgesetzten Bauarbeiten und Verschönerungen zogen
  nach und nach die Menschen an, so dass die Bevölkerung in beträchtlichem Maße
  wuchs. Alexandria erlangte erneut seine alte Bedeutung als Hafenstadt und mauserte
  sich zu einem der agilsten Hafenplätze des Mittelmeerraumes. Mit den mächtigen
  Gebäuden im Stil des ausgehenden 19. Jhs am Strand bekam es auch seine Eleganz
  zurück. Alexandria füllte seine alte ökonomische Rolle, dank einer außerordentlich
  dynamischen Baumwollbörse und seinen Geschäftsstraßen, wieder aus. Nicht zuletzt
  knüpfte es an seine traditionelle Bedeutung als Begegnungsstätte der verschiedensten
  Gemeinschaften wieder an, weshalb es in der mediterranen Welt bis zur Mitte
  unseres Jahrhunderts eine so einzigartige und so anziehende Rolle spielte. Hier
  lebten nebeneinander und vermischten sich sogar Grundbesitzer und moslemische
  Baumwollproduzenten, Kopten, Juden, Armenier, Griechen, Orientalen, Italiener,
  Franzosen und Engländer, die alle ihre Gemeinschaftseinrichtungen unterhielten,
  deren Spuren man heute auf den Friedhöfen findet: dem griechisch-katholischer
  Friedhof, dem jüdischen, dem italienischen ...
Man hat zuweilen Lawrence Durell vorgeworfen, in seinem berühmten Quatuor ein
  künstliches, snobistisches, wenig realitätsgetreues Alexandriabild beschworen
  zu haben. Aber die Kritiker übersehen, dass die wirkliche Persönlichkeit des
  Buches Alexandria selbst ist, die zeitgenössische Stadt, die sich über jene
  der Vergangenheit legt, welche zwar verschwunden, aber dennoch unvergleichlich
  präsent ist.
Wenn Alexandria auch heute dem einträglichen Handel mit Industriewaren und
  landwirtschaftlichen Gütern vorbehalten ist, so wurde es seiner anderen Bestimmung
  dennoch nicht untreu. Sicherlich ist es nicht mehr wie früher Konservatorium
  und Schmelztiegel der Kulturen seiner Zeit. Die Stadt fungiert nicht mehr als
  Leuchtturm, aber sie nimmt die Signale des Westens auf und spiegelt sie wider.
  So war Alexandria in den dreißiger Jahren bei allen Sitzungen des berühmten
  Literatenzirkels L´Atelier vertreten, der die begabtesten westlichen Schriftsteller
  einlud.
Im Sommer quartierten sich die Khediven und später die Könige mitsamt des Hofstaates,
  der Verwaltung und der Regierung in Alexandria ein. In der von jeher mit Kairo
  konkurrierenden Sommerresidenz wurden rauschende Feste gefeiert. Niemand verstand
  es besser als der Grieche Cavafy, die Seele dieser seiner Lieblingsstadt offenzulegen.
  Mit einfachen Worten, mit schnörkelloser Exaktheit beschreibt er ihre dunklen
  Straßen und zwielichtigen Kneipen. Die Epheben, denen er dort begegnete, sehen
  jenen von damals zum Verwechseln ähnlich. Die Vergangenheit wird keinesfalls
  ausgeschlossen, die Gegenwart trägt auf immer ihre Züge und der Dichter erzählt
  die ewige Wahrheit: mit Hilfe des Vergänglichen auf der Suche nach dem Absoluten.
  Sein melancholisch und schmerzlich dreinblickendes Gesicht sucht bis heute die
  ehemalige Lepsius-Straße heim, heute Charm al-Scheich-Straße, wo er zu Hause
  war. Lauschen Sie dem Chor der unsichtbaren Stimmen, wie Antonius von allen
  aufgegeben. Wandern Sie auf den Spuren des Dichters, auf der Suche nach der
  verlorenen Zeit ...
Alexandria blüht wieder auf
Vom Khediven Ismail bis zu Gamal Abd al-Nasser erlebte Alexandria seine zweite
  Blütezeit, auf die wiederum ein trister Exodus folgte. Sehr bald nach den Verstaatlichungen
  und der Suezkrise ergriffen alle ausländischen Minderheiten die Flucht und schloß
  die Baumwollbörse, die den Reichtum der Stadt ausgemacht hatte, ihre Pforten.
  Der Stern Alexandrias verblaßte und ging unter.
Die Stadt stagnierte eine Weile, unterlag dann aber jener unbezwingbaren Entwicklung,
  die alle ägyptischen Städte erfaßte, und machte sich daran, maßlos zu wuchern.
  Vororte griffen immer weiter nach Osten, Süden und Westen aus. 1988 wurde ein
  Architektenwettbewerb für den Bau einer neuen Bibliothek ausgeschrieben, ein
  von der Unesco unterstütztes Vorhaben. Der Bau einer französischsprachigen Universität
  ist in Planung: sie soll den Namen des senegalesischen Politikers und Lyrikers
  Léopold Senghor tragen. Vielleicht werden beide der Stadt wieder zu Mittel und
  Ansehen verhelfen. Seit sich das mittelere und kleine Bürgertum bezahlten Urlaub
  erkämpft hat, füllt sich Alexandria im Sommer wieder regelmäßig mit Feriengästen,
  und die Strände präsentieren sich genauso proppenvoll wie jene an der Côte d´Azur.
Dennoch wahrt die Innenstadt für einige Zeit noch ihre Fünfziger-Jahre-Physionomie,
  vielleicht etwas verwelkt schon, aber immer noch deutlich erkennbar. Am Zaghlul-Pacha-Platz
  verströmt das Cecil-Hotel seinen überflüssig gewordenen Reiz. Von hier aus gelangen
  wir durch die Nebi-Daniel-Straße, wo sich ein Schuhgeschäft ans andere reiht
   ein ganzes Volk wollte mit Schuhen versorgt werden  in die breite Gamal-Abd-al-Nasser-Straße.
  Mit der ehemaligen Cherif-Straße, heute Salah Salem, bildete sie die elegante,
  mondäne Flaniermeile, auf der man den letzten Schrei der Pariser Modewelt und
  extravagante Schmuckkreationen bewundern konnte. Bei einem Getränk im Café Athineos,
  Nebi-Daniel-Straße, oder in der Konditorei Pastroudis, Al-Horreyia-Straße, spürt
  man einen Hauch der in die Jahre gekommenen Atmosphäre dieser alten Etablissements.
Im Süden der Al-Horreyia-Straße erstreckt sich entlang der Al-Attarin-Straße
  und einigen ihrer Nachbargassen ein kleiner Flohmarkt. Nachdem zahlreiche Alexandriner
  ins Exil gegangen waren, strotzten die Trödlerläden nur so vor altem Mobiliar,
  darunter manchmal auch Bilder großer Meister und Nippes, der von den Hals über
  Kopf Flüchtenden zu Schleuderpreisen verhökert worden war. Diese Quelle ist
  im Laufe der Jahre versiegt, aber beim Stöbern in den Ecken und Winkeln findet
  sich zuweilen noch ein seltener oder seltsamer Gegenstand. Mit etwas Glück und
  viel Verhandlungsgeschick kann man ihn für wenig Geld erstehen. Hier sollte
  man sich treiben lassen, ganz der Vergangenheitssehnsucht hingeben. An einem
  Wintertag, vielleichht in der Zeit zwischen zwei Regengüssen, kann es durchaus
  passieren, dass Sie Ohrenzeuge werden, wie ein Händler eine leicht zerkratzte
  Edith-Piaf-Platte auflegt, um ein altes Trichtergrammophon auszuprobieren. Eine
  surrealistische Szene: die rauhe Stimme wird Ihnen durch die schlammige Straße
  folgen, in deren Fenstern Wäsche flattert.
Entlang des von tristen Lagerhallen gesäumten Mahmudieh-Kanals gelangt man
  zu den Gärten von Nuhza und Antoniadis, wo Rosen und tropische Pflanzenarten
  gedeihen.
		

