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Ruf der Wüste

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Auf den Wüstenstraßen

Du hast recht getan

aufzubrechen, Arthur Rimbaud.
René Chara

Schwarz und Rot

Was ist das, Ägypten? Diese Frage erscheint zunächst absurd und unnötig, aber
bei genauerer Betrachtung wird klar, dass man sie stellen und beantworten muß,
um den Facettenreichtum dieses Landes zu begreifen, das allzu häufig für gleichförmig
gehalten wird. Ägyptens politische Grenzen – die im übrigen je nach Jahrhundert,
Eroberung und Friedensvertrag beweglich waren – entsprechen nur bedingt einer
geographischen Einheit und noch weniger der Art und Weise, wie die Einwohner
ihr Land sehen und beschreiben. Und deren Blick unterscheidet sich natürlich
noch einmal von dem eines Europäers oder Amerikaners.

Die Ägypter der Antike unterschieden klar zwischen dem Tal mit seinen fruchtbaren
Böden – Kemet, das Schwarze – und der Wüste – Decheret, die Rote. Letztere indes
zählt zu einem Begriffsfeld, das weit über die reine Farbe hinausgreift: die
Farbe Rot steht auch für das Unheilvolle und Schädliche. Die Wüste war voller
Dämonen, von den alten Ägyptern gefürchtet und von unseren Zeitgenossen Afrits
genannt. Im ägyptischen Pantheon stand Rot für die Gottheit Seth, den Mörder
Osiris´ und den feindlich gesonnenen Fremden, den Anderen.

Die Bewohner des fruchtbaren Niltals gingen ungern in die Wüste, diesen glühendheißen
Ort, wo man verdurstete und seine Toten begrub. Sie brachen nur gezwungenermaßen
dorthin auf: zu Frondiensten in den Steinbrüchen und Minen oder ins Exil. Nichtsdestotrotz
wurden die westlichen Oasen früh von den Ägyptern kolonisiert, die so die Karawanenrouten
kontrollierten. Genauso verstanden sie seit dem Alten Reich ihren Zugriff auf
den Sinai: sie bauten in den Minen Kupfer und Türkis ab, ohne dass man deswegen
hätte sagen können, die Halbinsel sei ägyptisches Territorium.

Diese Situation hat sich nicht grundlegend geändert: den Ägyptern ist es immer
noch zuwider, in die Wüste zu fahren. So waren anläßlich des Neuen-Tal-Projekts
im Jahre 1959 nur wenige bereit, sich im Gebiet der westlichen Oasen anzusiedeln,
trotz der Erleicherungen für diejenigen, die sich weitab ihres Heimatorts niederließen.
Dennoch bedeutete der Verlust des Sinais im Sechstagekrieg eine schwere Demütigung
und einen Angriff auf die territoriale Integrität des Landes. Zur Angst vor
der Wüste gesellt sich eine treue Bindung an den nationalen Boden, selbst wenn
es sich um Teilgebiete handelt, die außerhalb des Niltales liegen.

Der Ruf der Wüste

Es gab jedoch eine Zeit, da einzelne in Ägypten den Ruf der Wüste durchaus
vernahmen. Gottestrunken zogen sie sich in die abgelegensten Berghöhlen der
Arabischen Wüste zurück: so flohen Antonius, Paulus, Makarius und viele andere
vor ihrem Jahrhundert, um als Einsiedler ihr Leben dem Gebet zu widmen. Tausende
folgten ihnen, so dass Thebais ein bekannter Name wurde. Ihre Vorfahren ließen
sich in der Wüste begraben, sie gingen dorthin, um für die Welt zu sterben,
sich zu kasteien, sich dem Hunger, dem Durst und den Halluzinationen auszuliefern
und die Grenzen des menschlichen Wesens auszuloten. Klöster erinnern an diese
eigentümliche, zu häufig vergessene oder verschleierte Episode der Geschichte
Ägyptens: sie wurden an jenen Orten errichtet, wo der Sage nach die Einsiedler
lebten.

Heutzutage übt die Wüste erneut eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus,
aber diesmal nicht aus mystischen Gründen. Erpicht darauf, dem Zugriff der Städte
und den Umweltschäden des Industriezeitalters zu entkommen, möglicherweise auch
empfänglich für die Geschichte des Lawrence von Arabien, empfindet der abendländische
Mensch eine besondere Faszination für dieses mineralische Universum. Bücher
und Kolloquien zum Thema häufen sich, ebenso die Werbung, die das Bild der wiedergefundenen
Unberührtheit banalisiert oder karrikiert. Zwischen dergleichen Phantasien und
der Realität liegen Welten. Und dennoch erfordert es in Ägypten oft nur einen
Schritt, um vom Tal in die Wüste zu gelangen. Aber jeder dort unten weiß, dass
es einer langen Lehrzeit und einer geduldigen Annäherung bedarf, um in dieser
gefürchteten, feindlichen Welt leben zu können.

Diese Erfahrung ist freilich nicht allein unerbittlichen Kämpfernaturen und
mystisch angehauchten Schöngeistern vorbehalten. Man kann sie im Rahmen eines
einfachen Ausfluges machen, der gleichwohl einige Vorsichtsmaßnahmen erfordert:
die Wüste will verdient sein! Wer von Ägypten mehr mit nach Hause nehmen möchte
als stereotype Bilder, wird seine Einweihung in tiefere Geheimnisse mit einem
Oasenbesuch beginnen, die vom Niltal nur durch ein in der Regel nicht über fünfzig
Kilometer Luftlinie betragendes Wüstenband getrennt sind.