Geographien
Von Nilschlamm und Menschen
Meine Bäume sind Flammenbaum und
  Dattelpalme; meine Blume, der Jasmin.
  Edmond Jabès
Geographien
Die Menschen, deren Geschichte wir eben mit Siebenmeilenstiefeln durchmessen
  haben, sind fest in ihrem Nährboden verwurzelt, dem sie den größten Teil ihrer
  Lebensgrundlage zu verdanken haben. Ägypten besitzt eine eigentümliche Gestalt,
  seine Landschaften strahlen einen unverwechselbaren Charakter aus. Sie mögen
  manchem monoton erscheinen; doch leitet sich die Kraft ihrer schlichten, wesentlichen
  Linien gerade von diesem besonderen Umstand ab.
Trotz seiner mediterranen Stirnseite ist Ägypten ein afrikanisches Land. Die
  schmale Oase, tausend Kilometer lang, öffnet sich auf ein fruchtbares Delta,
  die einzige große Ebene im ganzen Land. Beidseitig davon dehnt sich Wüste aus:
  die Sahara, die den afrikanischen Kontinent umspannt wie eine feindliche, unwirtliche
  Macht. So wurde der dem Herzen Ostafrikas entspringende Nil zum Lebensnerv Ägyptens
   ja, zur Bedingung seiner Existenz. Hier die Grundgegebenheiten: der breite,
  dunkle Fluß, dessen Lauf nur durch den ersten Katarakt in Assuan von glatten,
  schwarz-rosa Granitfelsen unterbrochen wird; hie und da hat sich der Sand zu
  kleinen Inseln aufgeschwemmt. Die steilen Schlickufer umsäumen intensiv bewirtschaftetes
  Land, dessen Felder unter den Palmbüscheln in sämtlichen Grüntönen spielen.
  Diese Schwemmlandebene mißt nirgends über fünfzehn Kilometer in der Breite und
  verengt sich bisweilen auf höchstens fünf. Jenseits davon gibt es kein Entrinnen
  vor der Wüste; sie ist zum Teil gebirgig, zum Teil eintönig flach, kaum aufgelockert
  durch 
Steinbrocken und Dünen. Eine starre Landschaft, die sich im Tagesverlauf verfärbt:
  frühmorgens rosa, mittags strahlend weiß, violett überschattet in der Dämmerung.
  Die Grenze zwischen dem bewässerten und bepflanzten Boden und der sterilen Sandfläche
  tritt erschreckend deutlich zu Tage; man passiert sie mit einem einzigen Schritt,
  der übergangslos von der landwirtschaftlichen Geschäftigkeit in ein Universum
  völliger Einsamkeit führt.
Das Delta wirkt wie ein tiefer Einschnitt in diese Konfiguration: eine weite
  Ebene zwischen den beiden Nilarmen (Rosetta und Damietta) und dem Kanalnetz.
  Hier gehen Felder und Obstplantagen ineinander über; hier kann man die Wüste
  vergessen, soweit die flache, schlammige, unerfreuliche Mittelmeerküste reicht.
  Diese Gegend hat sich seit dem Altertum kaum verändert, abgesehen von den Sümpfen,
  die einst reich an Wild und Fischen waren; heute trocknen sie aus und werden
  nach und nach in Ackerland verwandelt. Auch das Klima ist ziemlich konstant
  geblieben, obgleich es jetzt öfter regnet als früher, seit der große Staudamm
  das Ökosystem beeinträchtigt. Im wesentlichen herrscht hier ein trockenes Klima
  mit geringem Niederschlag (außer an der Küste) und glühenden Temperaturen im
  Sommer. Allerdings kannten die Ägypter seit jeher auch Wolken und Nebel  wie
  schon ihre Sprache zeigt, die alles Gefasel vom ewig blauen Himmel Lügen straft.
  Im Monat Mechir  die Bauern richten sich noch immer nach dem alten ägyptischen
  Kalender  toben schreckliche Sandstürme, die Haut und Augen verbrennen und
  alles mit einem feinen, hartnäckigen Staub bedecken.
		

