Tod der Götter
Der lange Abstieg
Ptolemäus, ein General Alexanders des Großen, gründete gegen 306 die Lagiden-Dynastie.
  Sie beraubte Ägypten seiner politischen Autonomie, nicht aber seiner kulturellen
  Identität. Beide Zivilisationen lebten nebeneinander, ohne sich nennenswert
  zu beeinträchtigen. Die Gründung Alexandrias spielte eine entscheidende Rolle
  in der Entwicklung griechischen, jüdischen und letztlich christlichen Denkens.
  Museum und Bibliothek, in denen die damalige Wissenschaft vollständig erfaßt
  war, lockten die namhaftesten Gelehrten im östlichen Mittelmeerraum an sowie
  Dichter und Philosophen. Man übersetzte die Bibel ins Griechische; Philon lebte
  hier, und nach ihm Klemens und Origines. Aber zur gleichen Zeit entfalteten
  die ägyptischen Priesterseminare, die sogenannten »Häuser des Lebens, eine fieberhafte
  Aktivität. Man pflegte die jahrtausendealten Theologien und fachsimpelte über
  alles und nichts. In einer für Laien verschlossenen Welt untersuchte man mit
  extremer Subtilität die graphischen Möglichkeiten der Hieroglyphen, obwohl diese
  im Alltagsgebrauch durch die demotische Schrift ersetzt worden waren. Dieses
  Spiel wurde bis zur äußersten Grenze getrieben, in strikter Ablehnung des griechischen
  Alphabets. Ägypten deckte sich mit Tempeln ein, in deren Wände der Endzustand
  ägyptischen Denkens eingemeißelt wurde. Es war ein letzter Triumph, vielleicht,
  und ein Vorbote der Agonie. Das Ägypten der Pharaonen ging nicht nur an seinen
  militärischen und politischen Niederlagen zugrunde, sondern vor allem auch am
  Tod seiner Götter.
Der Tod der Götter
Es gab Widerstand, heftigen Widerstand bis ins vierte christliche Jahrhundert.
  Aber das Christentum war längst eingesikkert; über Alexandria verbreitete es
  sich über das ganze Land. Im Jahre 389 fiel die Entscheidung: ein Edikt des
  byzantinischen Kaisers Theodosius verfügte die Schließung aller heidnischen
  Tempel.
Damit war dem pharaonischen Ägypten das Lebenslicht ausgeblasen, auch wenn
  es in anderer Form überlebte. Hat nicht das Christentum manche seiner Bilder,
  und zwar die populärsten, der ägyptischen Tradition entlehnt? Die Jungfrau mit
  dem Kind oder Isis und ihr Sohn Horus; der Heilige Georg als Drachenkämpfer
  oder Horus, der die Schlange Apophis besiegt. Haben nicht die ägyptischen Christen,
  die Kopten, alte Bräuche bewahrt sowie eine Sprache aus älterer Zeit? Haftet
  den heidnischen Tempeln, deren Götter längst verschwunden sind, nicht eine Art
  okkulter Macht an? Laufen unfruchtbare Frauen in den Dörfern nicht heute noch
  singend um die Ruinen, um die ersehnte Schwangerschaft zu erflehen? Hat sich
  nicht manches alte Ritual trotz Christentum und Islam erhalten? So verschwand
  beispielsweise erst im zwanzigsten Jahrhundert die Zeremonie der »Wafa-al-Nil
  (Nilschwelle), bei der eine Statue dem Fluß als »Braut geopfert wurde. Damit
  feierte man die kommende Überschwemmung und die Öffnung des Khalig-Kanals durch
  Kairo.
		

