Jugendherbergen
Einst famos, jetzt assig
Geschichte der billigen Unterkunft für Wanderer
Jugendherbergen sehen längst nicht mehr so aus wie vor ein paar Jahrzehnten. Auch sie geben sich inzwischen jung und modern, denn sie müssen sich mächtig ins Zeug legen, um ihr Klientel zu halten. Wo ist die Wanderjugend hin, die sich zur Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs entwickelte? Die dem behäbigen Bürgertum entfloh, sich kameradschaftlich über Stock und Stein begab, ohne Alkohol und Tabak, aus Freude an Bewegung und Natur?
Die erste Jugendherberge wurde 1912 in der Burg Altena gegründet, durch Wilhelm Münker und Richard Schirrmann. Letzterer, ein preußischer Lehrer, geriet 1909 mit seinen Zöglingen bei einer Wanderung in ein Gewitter. In eine Schule geflohen, kam ihm der Gedanke, an allen für Wanderer bedeutenden Orten Unterkünfte bereitzustellen. Tatsächlich entwickelte sich aus der ersten Herberge ein flächendeckendes Netz in ganz Deutschland. Die bislang meisten Jugendherbergen (2106) fand man 1930, die meisten Übernachtungen (elf Millionen) 1979.
Aber wie Erwachsene nun mal so sind, wollten sie der Jugend nicht nur eine günstige Unterkunft zur Verfügung stellen, sondern sie auch nach ihren Vorstellungen formen. Dass dies nicht immer gelang, wurde spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg klar. Damals entwickelte sich die Jugend in rasantem Tempo, zum Entsetzen der während des Krieges erzogenen Generation von Herbergseltern. Als sei es nicht genug, dass die "Kleinen" überall ihren eigenen Kopf durchsetzten, sie hatten plötzlich auch keine Lust mehr zu wandern.
Deutsche Jugendliche auf einer Wanderung?
Man erinnere sich nur an Wilhelm Münker, der einst dazu aufrief, auch Mädchen müssten wandern. Damals besuchten hauptsächlich Jungs die Jugendherbergen. Heute ist die Jugend einen Schritt weiter: Klar dürfen Mädchen auch wandern, aber sie wollen nicht. Jungen ebenso wenig. Mit einem schweren Rucksack über Stock und Stein, wenn Einkaufsstraßen, Diskos, Kinos und anderen Errungenschaften der Moderne locken? Die hehren Ziele der Wanderer, Gesundheit und Fitness, erfüllt man heute im Fitnessstudio - oder auch gar nicht, wie Fast Food und Übergewicht zeigen.
Heute verachten Jugendliche die Werte ihrer Vorgänger. Enthaltung von Alkohol und Nikotin? Wandern? Willensstählung? Sich mit Dreizehn-Betten-Zimmern zu begnügen? Sperrstunde um zehn Uhr? Niemals!
So stellen sie ihre Forderungen auf, und die Herbergen reagieren darauf. Denn wie sollen Jugendherbergen ihr Überleben sichern, wenn Gäste ausbleiben? Sie gaben es also auf, der Jugend ihre Moralvorstellungen nahe zu bringen, und richten sich nun nach deren Wünschen.
In mancher Herberge wähnt man sich schon fast in einem Hotel. Nichts ist mehr damit, die Betten selbst zu beziehen (mit kratzigen Wolldecken), abgezählte Scheiben Brot zu frühstücken, um zehn Uhr abends im Finstern zu sitzen. Die Gruppenzimmer werden immer kleiner, das Gebäude mit mehr Sanitärräumen ausgestattet (nicht mehr bloß einer auf dem Gang oder gar im Nachbargebäude). Wie sollen Jugendherbergen auch mit einfacher Ausstattung bestechen, wenn das Hotel nebenan höheren Komfort zum selben Preis bietet?
Leider sinkt gerade der Anteil an Übernachtungsgästen, der Jugendherbergen einst ins Leben rief. Statt Mädchen und Jungen mit Wandern zu begeistern, denken sich die Herbergen ein Unterhaltungsprogramm aus. Sei es Körperpflege oder Entspannung, Musikunterricht oder Inline-Skating - Jugendherbergen werden "cool" und bieten ihren Gästen immer mehr. Was dabei vor einem Jahrhundert Anreiz zur Einkehr in einer Jugendherberge war, das Wandern, ist nur noch ein Aspekt von vielen. Leider oft ein verhasster.