Ökonomie
Marode Wirtschaft und Arbeitslosigkeit
Aufschwung oder Illusion
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges befindet sich Réunion in erbärmlichem Zustand. Die Bevölkerung ist unterernährt, die Kindersterblichkeit hoch. Zur Annäherung an Europa wird der Kolonie 1946 der Status eines Überseedepartements verliehen: ein Wendepunkt in der Geschichte der Insel, die trotzdem noch lange auf einen echten Fortschritt warten soll.
In den sechziger Jahren macht sich zunächst die steigende Zahl von Medizinern und der damit einhergehende Abfall der Kindersterblichkeit bemerkbar. Das rapide steigende
Bevölkerungswachstum verlangt nach weiteren Maßnahmen, so dass man den Bau neuer
Schulen und die Ausweitung von Gesundheitswesen und Infrastruktur in Angriff nimmt. Moderne
Kraftwerke werden ebenso errichtet wie vierspurige Schnellstraßen. Die Küstentraße N1
(Route Nationale 1) von Saint-Denis nach La Possession stellt sich dank schwieriger
Bedingungen sogar als teuerstes Straßenbauprojekt der Welt heraus.
Es scheint so, als habe die Insel in wenigen Jahren einige Epochen übersprungen. Der
Lebensstandard kommt dem in Europa nahe; die Abgrenzung gegenüber den armen Nachbarn
wächst. Dass dieser von außen herbei geführter Wandel nicht frei von Nebenwirkungen ist,
zeigt sich heute ganz deutlich. Die moderne Infrastruktur kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Wirtschaft der Insel nicht selbst trägt. Kaum ein Konzern zeigt Interesse daran, seine Produktionsstätten in einen weit entfernten, winzigen Markt zu verlegen, in dem vergleichsweise hohe Lohnkosten anfallen. Hinzu kommen die schlechten geologischen Voraussetzungen, die nur einen dicht besiedelten, schmalen Küstenstreifen als Standort zulassen.
Wo also sollen die Jugendlichen, die Jahr für Jahr auf den Arbeitsmarkt strömen,
unterkommen? Wie soll man Kindern angesichts einer Arbeitslosenquote von über 35%
vermitteln, dass eine gute Ausbildung die Zukunft ausreichend sichert? Wie tief der Unmut
über Abhängigkeit und Mangel an Perspektive sitzt, wird deutlich angesichts der schweren
Ausschreitungen, die 1991 in Chaudron, einem der ärmsten Stadtteile von Saint-Denis,
ausbrachen.