Selbstverwaltung oder Unabhängigkeit?
DIE QUEBEC-FRAGE
Selbstverwaltung oder Unabhängigkeit?
Bei den Wahlen zu den Provinzparlamenten im Jahre 1976 errang die »Parti Québécois« 41 % der Stimmen. Dieses Ergebnis verstand René Lévesque als Signal, 1980 ein Referendum zur »Souveraineté-Association« auf den Weg zu bringen. Es sollte ihm den Weg zu Verhandlungen ebnen, die zum Ziel hatten, Quebec Herr über sein eigenes Schicksal in einem souveränen Staat werden zu lassen und mit Kanada in einer Art gemeinsamem Markt verbunden zu sein. Trotz der Unterstützung durch Persönlichkeiten wie Félix Leclerc, Gilles Vigneault oder Robert Charlebois, erhielt dieser Vorschlag nur 41 % Zustimmung, wurde also abgelehnt. Ablehnend standen ihm die Wirtschafts- und Handelskreise gegenüber, ein großer Teil der anglophonen Minderheit, die immerhin 20 % der Bevölkerung Quebecs beträgt, ferner all diejenigen, die eine in ihren Augen zu schnelle Entwicklung erschreckte und natürlich jene, die im föderalen Verband bleiben wollten. Jugendliche und Arbeiter stimmten im Gegensatz dazu mehrheitlich dafür. Aufgrund des negativen Ergebnisses hofften einige, dass sich diese Tendenz bei den nächsten Provinzwahlen fortsetzen und die PQ Stimmen verlieren würde. Das Gegenteil war der Fall: die Partei Lévesques erhielt mehr Stimmen und Sitze, als bei der vorausgegangenen Wahl! Die Lektion, die politische Beobachter aus diesem ewigen Hin und Her ziehen konnten, war, dass die Mehrheit der Québecois zwar zum gegebenen Zeitpunkt nicht bereit war, einer radikalen Lösung des Problems zuzustimmen, sehr wohl jedoch auf ihrer Eigenständigkeit bestand. Es ist bezeichnend, dass in Montreal einige Viertel, wo vornehmlich griechische und italienische Einwanderer wohnen, die PQ der Liberalen Partei vorzogen und dass zwei gewählte Kandidaten der PQ Anglokanadier waren. Die Wahl reflektierte auch in gewisser Weise den Willen der Bewohner Quebecs, sich der massiven Amerikanisierung und Anglisierung Ostkanadas entgegenzustellen und ihre eigene Identität zu bekräftigen. Diese an sich verständliche Einstellung treibt bisweilen freilich kuriose, sprachprotektionistische Blüten: so wurde Ende der achtziger Jahre Ladenbesitzern unter Strafandrohung verboten, englischsprachige Schilder vor die Tür zu hängen »um das Überleben der französischen Sprache in Nordamerika sicherzustellen«. 1993 wurde dieser Gesetzeszopf wieder abgeschnitten, die »Anglos« jubelten und die Sprachenpolizei wurde überflüssig. Die Abwegigkeit dieser Maßnahme ist ein sicheres Indiz dafür, wie sehr das Französische in Amerika, und auch weltweit als Verkehrssprache, auf dem Rückzug ist. Da helfen eben keine Gesetze.
1982: Verabschiedung der kanadischen Verfassung: zum wiederholten Male und trotz Ratifizierung eines Gesetzes, das den Gebrauch der französischen Sprache in Schule, Industrie und Verwaltung neben dem Englischen erlaubte (»Loi 101«), bewies Quebec seine Widerspenstigkeit, indem es einem Zusatz zur Verfassung, der ein für allemal die politische Identität Kanadas festlegen sollte, seine Zustimmung verweigerte. Ferner sollte Kanada von der Pflicht befreit wurde, London bei jeder beabsichtigten Verfassungsänderung einschalten zu müssen. Eine Charta der persönlichen Freiheiten, welche die Grundrechte des Menschen festlegt, wurde ebenfalls hinzugefügt ...
Auf Bundesebene mußte die Liberale Partei Trudeaus im September 1984 nach fünfzehnjähriger Herrschaft - mit einigen kurzen Unterbrechungen - der konservativen Partei unter der Führung Mulroneys weichen. In Quebec verlor ihrerseits die PQ im Dezember 1985 gegen die Liberale Partei unter Premierminister Robert Bourassa; ihr Gründer René Lévesque verstarb am 1. November 1987.
René Lévesque hatte als hochrangiger Politiker stets für das Recht der Frankokanadier gefochten, anders sein zu dürfen als die anderen, und genoß auch bei seinen politischen Gegnern Respekt. Brian Mulroney hatte in seiner Funktion als konservativer Premier der Provinz Quebec versprochen, sie werde der neuen kanadischen Verfassung »mit Würde und Begeisterung« zustimmen können. Im April 1987 löste er sein Versprechen ein, als er zusammen mit den zehn Ministerpräsidenten der Provinzen den »Meech Lake Accord« erarbeitete. Im großen und ganzen sah die längst überfällige Verfassungsreform sieben Änderungen an der alten Verfassung von 1982 vor; unter anderem sollte Quebec als »Gesellschaft eigener Art« (»distinct society«) mit gewissen Sonderrechten anerkannt werden, um die Kluft zwischen Anglo- und Frankokanadiern endlich zuzuschütten. Noch vor Juni 1990 sollten die elf Provinzparlamente über die Zustimmung zu diesem Entwurf entscheiden. Aber es kam einmal wieder ganz anders: drei der unterzeichneten Premierminister mußten in der Zwischenzeit ihren Stuhl räumen und ihre Nachfolger erwiesen sich auf diesem Ohr als taub. Im ganzen Land flackerte die Diskussion über die Zweisprachigkeit wieder auf, die Provinzparlamente Manitobas und Neufundlands verweigerten die Ratifizierung und Kanada schlitterte in eine schwere Verfassungs- und Identitätskrise. Quebec drohte wieder mit Unabhängigkeit, die wirtschaftlich schwachen anglophonen Provinzen an der Ostküste, die in diesem Fall vom Rest Kanadas abgetrennt würden, mit einem Beitritt zu den USA. Mulroney setzte daraufhin eine Royal Commission ein, um im ganzen Land Ansichten über Kanadas Zukunft sammeln zu lassen, und legte 1991 eine neuerlichen Verfassungsentwurf vor. Eine unendliche Geschichte ...
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