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Winter und Indianersommer

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Geschichte und Gesellschaft

Winter und Indianersommer

Kanada: ein Wintermärchen?

Kanadier träumen angeblich davon, reich genug zu sein, um den Winter in Florida verbringen zu können und die tristen Monate hinter sich zu lassen, in denen die Bäume, selbst im Herzen Montreals, wie Eiskronleuchter wirken. Viele möchten fliehen vor diesen langen Wintermonaten, während dener sich vor noch gar nicht allzu langer Zeit das ganze Land an den Ufern des Sankt-Lorenz-Stroms verkroch, um die Eisschmelze abzuwarten. Der Winter stellt jedes Jahr aufs Neue eine Prüfung dar, die es zu bestehen gilt. Wenn er aber erst einmal vorbei ist, sind die Menschen ratlos; sie irren bei mildem Klima wie verlorene Kinder umher und fragen sich, wie der Rest der Welt überhaupt ohne Erfrierungen überleben kann! Denn der Winter ist für die Kanadier was der Tee für die Engländer und die Weißwurst für die Bayern.

Um sie verstehen zu können, muß man sich als klimatisch verwöhnter Mitteleuropäer einmal die Strenge des kanadischen Winters vor Augen führen. Den Ausführungen der Einheimischen zufolge friert man sechs Monate im Jahr bei minus 60°C und stirbt mitten in Montreal im Blizzard, wobei bestenfalls hartgesottene Trapper überleben ... Die Kanadier mögen stellenweise etwas übertreiben, haben im Grunde aber recht. Die Erinnerung an unbarmherzige Winter, ohne die Errungenschaften der modernen Zivilisation, hat sich in das kollektive Gedächtnis eingegraben. Man stelle sich nur die Ankunft der ersten französischen Siedler vor: von achtundzwanzig starben zwanzig während des ersten Winters am Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms! Unter ihnen gelangte ein gewisser Louis Hébert zu Ruhm, weil er die erste Kanadafichte gefällt und die erste Furche gepflügt hat, um die Landwirtschaft in der neuen Kolonie in Gang zu setzen.

Selbst im Zeitalter der Zentralheizung, der Heizdecken und Wärmedämmung bleibt der Winter in Kanada eine Prüfung, die es zu bestehen gilt.

Indianersommer

Der Herbst wird durch ein nordamerikanisches Phänomen gekrönt: den Indianersommer. Die ersten kühlen Tage werden von einer Woche - manchmal mehr, manchmal weniger - voller Sonne und Wärme unterbrochen, in der sich der Sommer zum letzten Mal gegen den drohenden Schnee aufbäumt. Diese klimatische Besonderheit löst bei den Kanadiern eine Art kollektiven Fiebers aus. Die Städte pulsieren, die Luft scheint elektrisch geladen, die Nacht wird zum Tag gemacht. Die Vegetation stellt für kurze Zeit ihre Entblätterung ein und bietet ein überwältigendes Farbschauspiel, das es so nur in der Neuen Welt zu bestaunen gibt und in Gestalt einer Symphonie gefeiert wird: in der Nr. 9 in e-Moll (»In der Neuen Welt«) des Wahlamerikaners Antonin Dvorak, 1892-95 Direktor des New Yorker Konservatoriums.

Bald aber verschwindet der Zauber, meist von einem Tag auf den anderen, und der erste Schnee fällt.

Wenn es also eine Zeit gibt, zu der man Kanada auf jeden Fall besuchen sollte, dann während des »Intermezzos« names Indianersommer.

Hoher Norden, weites Land

Nicht nur der kanadische Winter erinnert uns Menschen daran, wie verletzlich und winzig wir doch sind, sondern auch die Weite des Landes. Deutschland mißt selbst nach vollzogener »Wiedervereinigung« noch nicht einmal ein Drittel der Provinz Quebec und wird von rund achtzig Millionen Menschen bewohnt, wohingegen in Quebec nur sieben Millionen leben. Ganz Kanada bekleidet mit seinen knapp zehn Millionen Quadratkilometern nach Rußland weltweit Platz zwei und dürfte zur Jahrtausendwende die Dreißig-Millionen-Einwohnergrenze überschreiten. Die Bevölkerungsdichte, gemessen in Einwohner pro Quadratkilometer, beliefe sich dann auf 3,0 (Deutschland, Österreich und die Schweiz zum Vergleich: 223, 93 bzw. 165). Es ist daher verständlich, dass man die Kanadier, sobald man den vergleichsweise dichtbesiedelten Ufern des Sankt-Lorenz-Stroms und den Südostprovinzen den Rücken kehrt, wie die berühmte Stecknadel im Heuhaufen suchen muß. Dazu trägt auch der vergleichsweise hohe Verstädterungsgrad bei: immerhin zählt Kanada drei Millionenstädte (Toronto mit 3,8 Mio., Montreal mit 3,1 Mio. und Vancouver mit 1,6 Mio.) und drei Städte, die dicht an die Millionengrenze heranreichen: Ottawa, Edmonton und Calgary. Angesichts der Weite des Landes scheinen die Kanadier instinktiv zusammenzurücken: innerhalb eines etwa 300 km breiten Streifens im südlichen Teil des Landes.

Im Gegensatz zu uns Europäern, die wir unser Land bis auf wenige Ausnahmen urbar gemacht und erschlossen haben und stolz darauf sind wie auf einen gut dressierten Hund, ist die Beziehung der Kanadier zu ihrem Land von respektvoller Achtung geprägt. Man liebt es, wie man etwa eine Kathedrale liebt. Es ist also nicht erstaunlich, wenn die Selbstzufriedenheit der Europäer in Kanada (und in den USA) ein wenig befremdlich wirkt.



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