Antiquiertes Kanadabild
Veraltetes Kanadabild an der Uni
Bei der Ausbildung von Englischlehrern stellen die Literatur und Landeskunde Großbritanniens und der Vereinigten Staaten den Hauptteil der Studieninhalte dar. "Kanada dagegen ist nur von geringer Bedeutung, obwohl es in den neueren deutschen Lehrplänen für Schulen häufig ein Lerninhalt ist", sagt Matthias Merkl. Der Kulturwissenschaftler und Englisch-Didaktiker von der Uni Würzburg erforscht die kulturelle und ethnische Vielfalt in der heutigen kanadischen Gesellschaft.
Außerdem befasst sich Merkl mit der Identitätsfrage in der modernen kanadischen Literatur und mit der Rolle der Identitäten für den interkulturellen Verstehensprozess. Darum wollte er für sein Forschungsprojekt auch in Grundzügen wissen, welches Bild die Deutschen von Kanada haben. Er führte also eine Studie durch, an der etwa 250 Studierende aus der Würzburger Anglistik und Amerikanistik teilnahmen. Ergebnis: Das Kanadabild der Studierenden entspricht in weiten Teilen dem traditionellen Bild, das Entdecker, Forscher und Reisende im 18. und 19. Jahrhundert geprägt haben. Naturräumliche Elemente wie Berge, Flüsse oder Seen, kulturelle Besonderheiten wie "Indianer" sowie die englisch- und französischsprachigen Bevölkerungsteile sind darin maßgebliche Facetten.
Entwicklungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in Kanada zu einer völligen Neubewertung der Begriffe Nation, Identität und Kultur führten, waren den Befragten dagegen nicht vertraut. Merkls Fazit: "Die festgestellten Kenntnisse bilden keine ausreichende Grundlage für eine interkulturelle Auseinandersetzung mit dem Ziel der Perspektivenübernahme und des Fremdverstehens." Genau diese Kompetenzen erwarte man aber in der Englischen Fachdidaktik von den Studierenden am Ende ihrer akademischen Ausbildung.
Nach Einschätzung von Merkl kann dieses Defizit mit der modernen kanadischen Literatur ausgeglichen werden. "Literarische Texte der vergangenen 40 Jahre spiegeln die Diskussion über eine nationale Identität und die Hinwendung zu einer multikulturellen und multiperspektivischen Gesellschaftskonzeption in Kanada wider", sagt der Wissenschaftler. Schriftsteller wie Thomas King, Joy Kogawa oder Beatrice Culleton beschreiben die Erfahrungen und Erlebnisse von Personen aus ethnischen Minderheiten aus den unterschiedlichsten Perspektiven. So liefern sie Gegenentwürfe zu den westlichen Vorstellungen.
Ein typisches Beispiel für die eurozentrische Perspektive ist laut Merkl die Bezeichnung der nordamerikanischen Urbevölkerung als "Indianer". Die aus der Literatur früherer Zeiten bekannte Figur des "edlen Wilden", die vor allem in der Gestalt von Winnetou vertraut ist, sei in den Köpfen der Deutschen sehr tief verwurzelt. Dabei handle es sich aber um ein Konstrukt der Weißen, den so genannten "imaginary Indian". In der Gegenwart würden dagegen andere Bezeichnungen verwendet: Aboriginal Peoples, First Nations, Natives.
"Um ein differenzierteres Bild von Kanada und seinen Kulturen zu erhalten, müssen wir Ansätze entwickeln, die sowohl den eigenkulturellen, also deutschen, als auch den kanadischen Hintergrund einschließen", sagt Merkl. Im Falle von Kanada sei das besonders schwierig, da auch das Aufeinandertreffen der verschiedenen Kulturen innerhalb des Landes in den Verstehensprozess einbezogen werden müsse. Betreut wird das Projekt von Professor Rüdiger Ahrens vom Lehrstuhl für Kulturwissenschaft der englischsprachigen Länder und Didaktik der englischen Sprache und Literatur. Merkl kooperiert außerdem eng mit deutschen und kanadischen Wissenschaftlern aus den Kultur-, Literatur- und Erziehungswissenschaften.
Finanziell gefördert wurde sein Projekt durch ein Stipendium aus der Jubiläumsstiftung zum 400-jährigen Bestehen der Universität. Dieses nutzte Merkl, um im Frühling 2004 die Reisekosten für einen Forschungsaufenthalt in Kanada bestreiten zu können. Dort forschte er als "Visiting Scholar" an verschiedenen Universitäten.
Weitere Informationen: Dr. Matthias Merkl, T (0931) 888-5414, Fax (0931) 888-5413, E-Mail:matthias.merkl@mail.uni-wuerzburg.de