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Kulturhauptsadt

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Von der »europäischen Hauptstadt der Elendsviertel« ...

Es ist natürlich kein Zufall, dass Glasgow schon seit langem gerade
Fußballer und Boxer hervorbringt. It´s a sair fecht, es ist ein
harter Kampf, in den Arbeitervierteln an den Ufern des Clydes aufzuwachsen.
Man prügelt sich dort, man trinkt und begeht dort mehr Delikte als in
irgendeiner anderen Stadt Großbritanniens. Glasgow ist in mancher Hinsicht
eine Märtyrerstadt der industriellen Revolution. Die viktorianischen
Magnaten erwiesen sich zwar als feine Ästheten, wenn es um ihre Clubs,
ihre Banken, ihre Kirchen oder ihre Gemälde ging, sie geizten aber dagegen
etwas mit Geschmack und Fantasie, wenn sie ihre Arbeiter unterbringen mußten.
Sie ließen ganze Stadtteile voller tenements errichten, düstere
Kaninchenställe aus graurosa Sandstein mit drei oder vier Etagen, unterteilt
in winzige Ein- oder Zweizimmerwohnungen, die von einem Zentralflur abzweigten,
dem close, der auf einen Hinterhof hinausführte, dem back-court.
Closes und back-courts – die gleichzeitig Wasch- und Trockenplatz,
Abstellkammer und Bedürfnisanstalt waren sowie Raum für Wandschmierereinen
boten, zugleich aber auch einen Klatschtreffpunkt, Spielplatz und Ort für
Flirts und Faustkämpfe darstellten – prägten die ersten Eindrücke
mehrerer Generationen von Glasgowern und verfolgten sie bis in ihre Träume.

»Ich hätte nie gedacht, dass eine solche Anhäufung von Dreck,
Verbrechen, Elend und Krankheit an einem einzigen Ort der zivilisierten Welt
vorkommen könnte.« Diese heftigen Worte stammen weder von Taine, noch
von Engels oder Flora Tristan, noch von Jack London, als er die Elendsbehausungen
Londons entdeckte, sondern vom ehrenwerten Berichterstatter einer Untersuchungskommission
von 1842, der den Abgeordneten die »sanitären Zustände der Arbeiterbevölkerung«
von Glasgow darstellte. Die Kindersterblichkeit war dort höher als anderswo
in Europa, denn eine von zwei kleinen Glasgowern erreichte nicht seinen fünften
Geburtstag, während in Paris, das doch als grausam gegenüber seinen
Straßenkindern galt, die Sterblichkeitsziffer »nur« bei einem von drei
Kindern lag. Von denen, die bis ins Erwachsenenalter überlebten, litten
soviele an Rachitis (daher rühren noch die unzähligen verkrüppelten
alten Leute mit gekrümmten Beinen), dass die Stadtverwaltung ihre
Polizisten unter den kräftigen Burschen rekrutieren mußte, die
aus den Borders und aus dem Hochland herabkamen. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges
drängte sich die Hälfte der Schotten aber nur sieben Prozent der
Engländer in Wohnungen mit einem oder zwei Zimmern.

Man kann die Ausmaße der Aufgabe ermessen, welche die lords Provosts
(Bürgermeister) unserer Zeit erwartete, die darüberhinaus mit unlösbaren
Problemen der industriellen Umstrukturierung konfrontiert wurden. Sie knieten
sich zunächst in den Abriß der Elendsviertel hinein, dann in den
Bau jener riesigen Mietshauskomplexe Hutchesontown, Pollokshaws, Easterhouse
und Drumchapel, die der populäre einheimische Komödiant Billy Connolly
als »deserts wi´ windaes« bezeichnet, als »Einöden mit Fenstern«,
ohne die geringste Gemeinschaftseinrichtung, nicht einmal ein Pub. Die einzigen
Farbtupfer werden dort von den Riesenwerbeflächen für Alkohol und
Tabak hereingebracht sowie durch die Graffiti, welche die Überlegenheit
einer Jugendgang gegenüber ihren Rivalen rühmt.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg stürzten sich die Regierung und die
lokalen Stadträte in ein breitangelegtes Programm zur Bevölkerungsumsiedlung:
vier neue Städte, East Kilbride, Cumbernauld, Livingstone und Irvine,
die jene Überfülle von Glasgowern aufsaugen und Unternehmen anlocken
sollten, wurden an der Peripherie des Ballungsraums errichtet. Die originellste
und gelungenste unter ihnen, Cumbernauld, auf halbem Wege zwischen Glasgow
und Stirling gelegen, lädt zu einem recht lehrreichen Besuch ein. Man
besann sich jedoch um 1975 herum, dass die tenements alles in
allem weniger häßlich und unmenschlich als die Wolkenkratzer seien.
Die Arbeiten in der letzten neuen Stadt (Stonehouse) wurde eingestellt zugunsten
der »Sanierung (engl. rehabilitation) des Stadtzentrums«. Zu spät,
wie es schien. Das Unpassende des Ergebnisses entsprach lange Zeit der Zusammenhanglosigkeit
der an den Tag gelegten Bemühungen: in Stadtteilen wie Maryhill, Bridgeton,
Springburn, Partick, usw. zeugen noch einige Dutzend hübsch verputzter
tenements – ebenso pathetisch wirkend wie weißgekleidete Clowns
in einer Ruinenlandschaft – inmitten unbebauten Geländes, das aus der
Zerstörung benachbarter Wohngebiete hervorging, von der Überlegenheit
gewöhnlicher Steine gegenüber Beton.

So bedeutend der an Glasgow vorgenommene Aderlaß auch gewesen sein
mag, er konnte längst nicht alle in einem Jahrhundert der Nachlässigkeit
und Profitsucht angesammelten Unsauberkeiten beseitigen. Ein Viertel der Bevölkerung
drängt sich dort nach wie vor durchschnittlich mit eineinhalb Personen
pro Raum. Das sind doppelt soviele wie in Edinburgh, fünfmal soviele
wie in Aberdeen, Liverpool und London. Eine von fünf Wohnungen hat kein
Badezimmer; die Stadt hält, teilt oder streift die europäischen
Rekorde bei Herzgefäßerkrankungen und chronischer Bronchitis, und
sie stellt sogar, laut eines Berichts der Weltgesundheitsorganisation von
1985, die höchste Sterberate in der Welt beim Lungenkrebs, besonders
bei den Frauen. Unlängst noch katastrophal, ging die Kindersterblichkeitsrate
in den letzten zehn Jahren beträchtlich zurück; sie bleibt jedoch
im städtebaulichen Entwicklungsgebiet von Easterhouse 4,5 mal höher
als der britische Durchschnitt. Wenn man dann zudem noch erfährt, dass
einer von zwanzig Glasgowern Alkoholiker ist, und dass die Schüler
dieser Stadt die kleinsten und schmächtigsten im Vereinigten Königreich
sind, wird man verstehen, warum der Medizinprofessor Gordon Stewart seiner
Stadt 1976 den wenig schmeichelhaften Titel der »slum capital of Europe«
verlieh, »der europäischen Hauptstadt der Elendsviertel«.

... zur »europäischen Kulturhauptstadt«

Zehn Jahre später konnten wir miterleben, wie die Europäische
Gemeinschaft Glasgow zur »Europäischen Kulturhauptstadt« für das
Jahr 1990 ernannte – eine Auszeichnung, die in den vorangehenden Jahren an
keine geringeren Städte als Athen, Florenz, Amsterdam, Berlin und Paris
verliehen wurde! Inwiefern konnte es also die »Hauptstadt der Elendsviertel«
verdienen, in die Reihen dieser illustren Vorgänger aufgenommen zu werden?

»Die Zukunft Glasgows bleibt problematisch«, lautete die Schlußfolgerung
im dieser Stadt 1981 gewidmeten Artikel des Companion to Scottish Culture.
In der Tat schienen die wenige Jahre zuvor angestrebten Rehabilitierungsbemühungen
um die tenements mangels finanzieller Mittel zum Scheitern verurteilt.
Seit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wird freilich der städtische
Haushalt durch den Umfang des Bestands an council houses (Sozialwohnungen)
belastet: nahezu 60% der Glasgower Wohnungen werden von der Gemeinde verwaltet.
Aus offensichtlichen Wahlkampfgründen, aber auch wegen der katastrophalen
wirtschaftlichen Lage der Mehrzahl ihrer Bewohner – 60% der Einwohner von
Easterhouse gelten als unterhalb der Armutsgrenze lebend – liegen die Mieten
dort recht niedrig. Weiterhin ist dort, trotz der konservativen Gesetzgebung,
die den Mietern des sozialen Wohnungsbaus erlaubt, ihre Wohnung käuflich
zu erwerben, die Rate der owner-occupiers die schwächste Westeuropas.
Denn nur jeder vierte Glasgower ist Besitzer seines Hauptwohnsitzes, gegenüber
fast jedem zweiten Schotten und beinahe zwei von drei Briten.

Angesichts solcher Hindernisse forderte und erhielt die linke Stadtverwaltung
die Hilfe des Schottischen Entwicklungsbüros, um dann 1977 das GEAR-Projekt
anlaufen zu lassen (Sanierung des Glasgower Ostens). Innerhalb von zehn Jahren
renovierte dieses modellhafte genossenschaftliche Unternehmen, dem sich mehrere
Investoren aus dem privaten Sektor anschlossen, tausende von Wohnungen und
schuf viertausend Arbeitsplätze in den Stadtteilen, die vor nicht allzu
langer Zeit noch als die heruntergekommensten Glasgows galten. Und vor allem
stellte sich die Stadtverwaltung der Herausforderung, im kulturellen Bereich
zu investieren.

Während die Stadtväter Edinburghs nur widerwillig und von oben
herab ein Festival unterstützten, dessen Bedeutung sie nicht zu erfassen
schienen, legte sich die abgebrannte Prolostadt Glasgow krumm, um dem Scottish
National Orchestra
, der Scottish National Opera, dem Scottish
Ballet
und dem Scottish Chamber Orchestra eine Bleibe zu bieten
sowie auch den rund achttausend Gegenständen von der Chinavase bis hin
zu impressionistischen Gemälden, vom persischen Teppich bis hin zu mittelalterlichen
Kirchenfenstern und Rüstungen, die der Reeder William Burrell der Stadt
1944 vermachte. Vierzig Jahre später raubte das schließlich im
Pollok Park errichtete Burrell House, ein wundervolles Museum ganz
aus heller Kiefer und mit weiten Fenstern, das diese Sammlung aufnehmen sollte,
dem Edinburgher Schloß den Titel des meistbesuchten Bauwerks Schottlands.
Tatsächlich gibt es momentan mehr Glasgower (jährlich eine Million),
die ihre sieben Museen und ihre beiden Kunstsammlungen besuchen, als solche,
die den Weg zum Fußballstadion einschlagen.

Das Rangersstadion Ibrox wird den anderen britischen Clubs als Musterbeispiel
einer gelungenen Sanierung präsentiert: zum Beweis, dass Glasgow
seine »Kleine-Leute-Kultur« nicht den Ansprüchen der Bildungselite geopfert
hat. Abgesehen von ihren »klassischen« Museen kann die Stadt stolz einen erstaunlichen
People´s Palace ihr eigen nennen, ein Andenken an die Arbeitertradition
sowie ein Citizens´ Theatre, das, ohne etwas von seinem intellektuellen
Ehrgeiz zu verleugnen, 1982 eine Saison mit Stücken anbot, die schottische
Arbeiter-Dramatiker in der Zeit von 1920 bis 1950 verfaßt hatten. Daneben
gibt es ein Museum of Transport, das 1989 nicht lange zögerte,
dem Engländer John McGrath – Wahlschotte durch seine Heirat mit der Dichterin
Liz Lochhead und seine Leidenschaft für den Glasgower Revolutionär
John Maclean – Gastfreundschaft zu gewähren: für sein letztes Agitprop-Werk
Border Warfare. Schließlich wäre da auch noch das Mayfest
zu nennen, ein ebenso braves wie preiswertes Musik-, Theater- und Tanzfestival.

Was die Europäische Gemeinschaft belohnen wollte, war der beispiellose
Ehrgeiz, die Kultur in die Dienste einer nachindustriellen Renaissance zu
stellen, sowie die ständige Bemühung, die gesamte Bevölkerung
in dieses Unterfangen einzubeziehen und nicht nur ihre »intellektuelle« Randgruppe.
Das Programm der Festlichkeiten von 1990 legte von diesem Willen Zeugnis ab:
die »Prestige-« Veranstaltungen (Van Gogh-, Mackintosh-, Pissarro- und Crawhallausstellungen,
Opern, Konzerte, Film-, Theater-, Tanz-, Jazz- und Harfenfestivals sowie Veranstaltungen
über zeitgenössische Musik, Chorgesang, Schriftsteller, usw.) trafen
dort auf geselligere Aktivitäten, wie beispielsweise Wettangeln, Leichtathletikhalleneuropameisterschaften,
Marathonläufe (jährlich), Kinderfeste, Feste jüdischer Kultur,
Drachensteigenwettbewerbe, Straßenfeste und diverse Veranstaltungen,
bei denen tausende von Glasgowern in Szene gesetzt wurden. Höhepunkt
des Jahres war The Ship (Das Schiff), ein musikalisches Epos in den
– leider! rekonstruierten – Kulissen einer Werft, den unzähligen Arbeitern
gewidmet, die unlängst noch zum Ruhme des Clydes beitrugen.

Die »Glasgower Renaissance«, um einmal den von nun an feststehenden Ausdruck
zu bemühen, ist sicherlich überaus zerbrechlich. Den Einzug mehrerer
Yuppies in vor kurzem noch ungesunde Stadtviertel wird den Leidtragenden der
Desindustrialisierung ihren Arbeitsplatz nicht wieder zurückgeben. Dieses
fantastische Unterfangen kollektiver Förderung wird jedenfalls dazu gedient
haben, ein im Großbritannien der neunziger Jahre etwas in Vergessenheit
geratenes grundsätzliches Prinzip zu veranschaulichen: jede Anstrengung
zum Wiederaufbau – egal, ob national, regional oder lokal – muß, wenn
sie einige Aussicht auf Erfolg haben möchte, die Sehnsüchte aller
Bevölkerungsteile berücksichtigen und zum Ausdruck bringen.

»Glasgow´s miles better« (Wortspiel aus: Glasgow is miles better
und Glasgow smiles better): als der Stadtrat 1985 diesen provozierenden Spruch
in die Welt setzte, durchzog ein wissendes Lächeln das Vereinigte Königreich
von Norden nach Süden. Vor allem den Süden natürlich. Die Autosuggestion
hatte einmal mehr zugeschlagen. Auf nach Glasgow: Sie werden sehen, dass
es sich nicht um einen billigen Bluff handelt!