Ultima Caledonia
Ultima Caledonia
Schottland macht auf einer Weltkarte eine klägliche Figur. Mit seinen
Umrissen, jenen einer buckligen, faltigen und krummen Furie gleich, wirkt
es, als werde es auf Abstand gehalten von Europa, in Quarantäne gleichsam,
um nicht den gesunden Teil des Kontinents anzustecken. Wir sind nur zur Genüge
daran gewöhnt, die Karten mit den Augen eines Autofahrers zu lesen, der
die kontinentalen Massen den Seegebieten vorzieht. Ein Navigator würde
mit einem Blick erkennen, dass das antike Caledonia (wie Tacitus das
Land nördlich der Linie Clyde-Forth bezeichnete) weit davon entfernt
ist, irgendein skrofulöser Tumor Englands zu sein, sondern in Wirklichkeit
Mittelpunkt eines weiten ozeanischen Reiches ist, am Kreuzpunkt der alten
Seewege, die Dänemark mit Island, Norwegen mit Irland, die baltischen
Häfen mit England und den Niederlanden verbinden.
Also nicht weiter erstaunlich, dass beim Volksentscheid im Juni 1975
über den Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Europäischen
Gemeinschaft der Anteil der Gegenstimmen im Verhältnis zum Breitengrad
zunahm. Das Beispiel des benachbarten Norwegens nachahmend, waren die Bewohner
der Shetlandinseln und der Äußeren Hebriden die einzigen Briten,
die sich mehrheitlich gegen Europa aussprachen. Auf einem Formular zur Erstattung
im Rahmen seiner parlamentarischen Tätigkeit entstandenen Ausgaben antwortete
der liberale Abgeordnete der Orkney- und Shetlandinseln, Joe Grimond, in der
Rubrik »Nächster Bahnhof«: Bergen (Norwegen). 230 Seemeilen trennen Aberdeen
von Lerwick, der »Hauptstadt« der Shetlandinseln, und nur 210 Meilen Lerwick
von Bergen, der Metropole Westnorwegens. Beide liegen auf dem sechzigsten
nördlichen Breitengrad, ebenso wie Oslo, Helsinki, Leningrad und Südgrönland.
Am anderen Ende des Landes befindet sich Stanraer, Verladehafen nach Belfast,
versteckt am Ende eines grünen Fjords in Galloway gelegen, 55° nördlicher
Breite, auf der gleichen geographischen Breite wie Kopenhagen und Moskau.
Diese Zugehörigkeit zu Nordwesteuropa tritt um so stärker hervor,
als die nördliche Grenze der Cheviot Hills Schottland deutlich von England
absetzt. Dieses alte Gebirgsmassiv erreicht zwar nur eine Höhe von 850
Metern, aber das genügt in jenen Breitengraden, um aus ihm ein nicht
zu unterschätzendes Hindernis zu machen. Die kahlen Hügel des englisch-schottischen
Grenzgebiets stellten zu keiner Zeit einen ganz sicheren Übergang dar.
Sie sind übersät mit sumpfigen Heidelandschaften und trügerischen
Mooren, wurden bis ins 18. Jahrhundert von Wegelagerern heimgesucht und galten
lange Zeit wegen der raids (schottisches Wort, gleichen Ursprungs wie
das englische Substantiv road) als blutgetränkte Gegend. Der leicht
zu verteidigende Riegel der Cheviots verursachte den Untergang so mancher
Armee, die aus dem Süden kam bzw. versuchte, sich dorthin zu begeben.
Zu allen Zeiten versuchten Eindringlinge, sich über die schmale, für
Hinterhalte gut geeignete Küstenebene an der Nordsee, einzuschleichen.
Zwischen Tyne und Forth, den Schlachtfeldern von Otterburn und Dunbar bis
hin zu Flodden gelegen wo Jakob IV., einziger Verbündeter Ludwigs XII.,
der diesem treu ergeben blieb, 1513 mit seinen zwölftausend Soldaten,
der »Elite der schottischen Jugend«, unterging bilden die Borders einen
riesigen Beinhaufen, bedeckt mit einem Leichentuch aus schwarzem Torf. Jeden
Frühling zeichnen violette Erika und smaragdfarbenes Farnkraut die Heidelandschaft
für ihre Tapferkeit aus. An der Mündung des Tweed, der die englisch-schottische
Grenze auf einer Strecke von rund zwanzig Kilometern markiert, wechselte der
Hafen von Berwick-upon-Tweed, bis ins 12. Jahrhundert der lebendigste und
bevölkerungsreichste Hafen Schottlands, ein gutes dutzendmal die Seiten.
Seit 1482 ist die Stadt fester Bestandteil Englands, obgleich die ihren Namen
tragende Grafschaft sich auf schottischem Gebiet befindet! Bis weit ins Jahrhundert
der Aufklärung blieb das Schiff sicherstes Verkehrsmittel, um von Edinburgh
nach London zu reisen.
Dies erklärt, warum nur wenige Schotten 1707 das Gefühl hatten,
mit ihrem Parlament auch ihre Unabhängigkeit einzubüßen: man
glaubte, dass eine Zentralbehörde nicht mit den lokalen Mächten
wetteifern könne, namentlich nicht mit der Presbyterianischen Kirche,
um so mehr als ihr Sitz eine mehrtägige Seereise von ihren nächstwohnenden
schottischen Untertanen entfernt lag.