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Das gesellige Glasgow

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Das gesellige Glasgow

Und trotzdem ... Glasgow ist dennoch eine Perle unter den Städten.
Eine Rose, gewachsen auf einem Misthaufen. Eine Stadt, in der sich die Leute
kennen bzw. kennenlernen, sich rufen, diskutieren, debattieren, sich prügeln,
zusammen singen, feiern, weinen und zittern. Eine Stadt, in der sich eine
authentische urban folklore herausgebildet hat, eine städtiche
Volkskultur. Egal, ob der Glasgower, d.h. einer von drei Schotten, sächsischen
oder keltischen Ursprungs ist, oder italienischer, polnischer, litauischer
oder pakistanischer Herkunft, egal, ob er Katholik, Protestant oder Moslem
ist, ob Proletarier oder Angehöriger der Bourgeoisie, Trinker oder teetotaler
(Teetrinker, Abstinenzler), männlich oder weiblich – er läßt
sich jederzeit leichter definieren als der Pariser, der Londoner oder der
Edinburgher, zweifellos wegen der äußerst ausgeprägten Homogenität
seiner Lebens-, Wohn- und Arbeitsbedingungen.

Er (oder sie) ist – das bemerkt man auf den ersten Blick – ständig
in Bewegung: Fußgänger, die nicht warten können, bis sie an
der Reihe sind, um die Straße zu überqueren; Passanten, die den
Unkundigen nicht an einer Kreuzung zögern lassen können, ohne ihm
Auskünfte über den Weg zu erteilen: Gesprächspartner, die nicht
mit einem reden können, ohne wie verrückt an ihrer Zigarette zu
ziehen, oder ohne mit dem Kopf zu nicken (der berühmte Glasgow twitch,
das Glasgower Zucken, das man auch in Irland antrifft), und ohne ihre Sätze
mit gutturalen och aye und ach no (das o nicht diphtongieren!)
Ausrufen zu unterstreichen, so, als müßten sie sich ständig
vergewissern, dass ihr Körper noch funktioniere, so, als ob die
geringste Sekunde der Unbeweglichkeit vor ihnen die fürchterlichen Abgründe
existenziellen Verzweiflung aufbräche.

Er ist einfach, unverblümt und direkt. Er verachtet gekünsteltes
Gehabe und die smart Alecs who put on airs, das heißt, die Angeber,
die mit dem Oxforder Akzent reden und sich bei Burton einkleiden, während
ihr Vater noch in drei Schichten arbeitete. Der Glasgower, die anarchischen
Tendenzen der Gälen mit dem messerscharfen Verstand der Lowlander verbindend,
ist fähig, jeden Blender zu entlarven, und ist von Grund auf Anhänger
des Gleichheitsprinzips. »A man´s a man for all that« (»Ein Mensch
ist ebenso viel wert wie ein anderer«) ist der Vers von Burns, den er am häufigsten
zitiert. Rechnen Sie nicht damit, dass er Sie mit dem ehrerbietigen Sir
anredet. Da können Sie noch so sehr wie ein Lord gekleidet daherkommen
– nichts wird den Glasgower mit Schirmmütze und Regenmantel daran hindern,
Sie mit folgenden, unveränderlichen Worten nach der Uhrzeit zu fragen:
»Have ye got the time oan ye, Jimmy?«
In Glasgow werden alle Männer
Jimmy oder Mac genannt und alle Frauen hen (Hühnchen). Logischerweise
wählt er links (er haßt das elitäre Getue der tories
und ihr Edinburghisch-Londoner Benehmen), aber widersetzt sich mit aller Kraft
den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen, die seinem
Arbeiterkonservatismus mißfallen.

Er ist auch überaus sentimental. Glasgow ist eine der wenigen Städte
(zusammen mit Fellinicittà), wo Sie auf offener Straße weinen
könnten, ohne dabei befürchten zu müssen, sich lächerlich
zu machen, sondern eher mit der ziemlichen Gewißheit, dass jemand
kommt, um Sie zu trösten. Man mag dort Menschenmassen und die öffentliche
Erregung, denn, wie wiederum auch die Städter bei Fellini; der Glasgower
ist ein Herdenmensch. Zweifelsohne ist er durch die Ameisenhaufen, in denen
er arbeitet, und die Kaninchenställe, in denen er wohnt, so konditioniert,
dass er seine Freizeit nur im Rahmen größerer Volksaufläufe
gestalten kann. Nichts scheint ihn so ungemein zu erschrecken, wie die Vertraulichkeit
eines kleinen Raums: vielleicht liegt es daran ebenso stark wie am Puritanismus,
dass es in der Hafenstadt Glasgow kaum Nachtlokale und Diskos gibt. Dagegen
besitzt die Stadt das zweitgrößte Fußballstadion der Welt
(Hampden Park) und das größte Kino Europas. Im Verhältnis
zur Einwohnerzahl hielt bzw. hält die Stadt wie eh und je die britischen
Rekorde bezüglich der Zahl der Plätze in Variétés,
Theatern, Tanzbars, Kinos, Cafés, bingo-halls und auf Ausflugsschiffen.

Die Säle, die einem treuen und gutmütigen Publikum Revuen, Farcen,
Melodramen und Singspiele anboten, mußten von den fünfziger Jahren
an den Kinos weichen. Einer von ihnen wurde jedoch zum Opernhaus umgestaltet
– dort, und nicht in Edinburgh, ist der Stammplatz der Scottish National
Opera
– und ein weiterer in ein Kulturtheater, das Citizens´ Theatre.
Trotz der hervorragenden Qualität ihrer Produktionen und trotz recht
intensiver Bemühungen um Öffnung, vornehmlich in Richtung Schulpublikum,
ziehen diese beiden Vorposten bürgerlicher Kultur auf Missionsgebiet
keine Volksmassen an. Nichts ist in dieser Hinsicht vielsagender als der Vergleich
der beiden Warteschlangen, die sich im erzproletarischen Gorbals-Viertel parallel
zueinander hinziehen, die eine vor dem Citizens´ und die andere vor
einer benachbarten Spielhalle (bingo-hall). Die einzige Gemeinsamkeit
zwischen den Geduldigen, die diese Schlange bilden, scheint die masochistische
Dickköpfigkeit zu sein, mit der sie im Sprühregen ausharren.

Die unglückseligen Bingo-Halls sind seit 1970 wie Pilze aus
dem Boden geschossen, wobei ihnen der Zusammenbruch des Kinos Auftrieb verlieh,
das durch die Konkurrenz mit drei guten Fernsehsendern zermürbt wurde,
sowie ferner durch die Mittelmäßigkeit der englischen Filmproduktion
(das schottische Kino ist nach wie vor eine streng vertrauliche Angelegenheit)
und durch die Monopolstellung zweier Konzerne im Filmvertrieb. Die Bingohalle
ist der bevorzugte Bereich der Glasgowerin, der einzige Ort der Zerstreuung,
an dem sie, ohne Einschränkung zugelassen, die alleinige Herrscherin
ist. Zusammen mit ihren Freundinnen von der Arbeitsstelle oder aus dem Viertel,
opfert sie dort – unter der Aufsicht eines Animateurs, dessen Zungenfertigkeit
auf halbem Wege zwischen männlicher Zuvorkommenheit und Frauenfeindlichkeit
angesiedelt ist – dem Dämon des Spiels, der jeden Briten, der sich seiner
Herkunft würdig erweist, quält. Ihr Ehemann begleitet sie nur selten
in diese Höhle der Klatschbasen und Marktschreier. Den auf weiblicher
Intuition beruhenden Spielen mißtrauisch gesonnen, geht er lieber zu
seinem gewohnten bookie, um dort seine football coupons wissenschaftlich
exakt auszufüllen. In Glagow hat das Laster einen Platz an der Sonne,
denn häufig findet man diese Ambulanzen der Illusion Seite an Seite in
einer langen Reihe, als da wären pub, bingo-hall und betting-shop
(Wettbüro), das Ganze umrahmt von einem Tabak- und Zeitungshändler
und einer Videovermietung. Die Kirchen halten – wie schade für die Schönheit
der Vorführung! – nicht in jedem Fall gute Nachbarschaft mit den Läden.
Es stimmt, dass die Pfarrer in Schottland eher einmal wettern als wetten.

Wie auch die Elendsbaracken in Neapel, Detroit oder Liverpool, brachten auch
die von Glasgow einen eigenen Stamm von Sängern hervor. Der in einem
tenement aufgewachsene Journalist Clifford Hanley hebt in seiner Autobiographie
Dancing in the Streets hervor, dass »die Glasgower das ständige
Bedürfnis verspüren, ein Liedchen zu singen. Lieder von Burns, traditionelle
oder moderne Gesänge, Opernmelodien, patriotische Lieder, egal was. Aber
ihr Herz schlägt doch einen Takt schneller für die leidenschaftlich
sentimentalen Lieder«.

In den Pubs wird jedoch wenig gesungen, denn die Wirte fürchten die
Raufereien, die durch die Papst- oder Oranientreuen sectarian songs
der Celtic- oder Rangersanhänger provoziert würden. Jedenfalls hat
die Stimmung in einem Glasgower Durchschnittspub nichts von einem eintönigen
Singsang. Der Dichter Hugh MacDiarmid widmete übrigens den Dour
Drinkers of Glasgow
einen Essai (dour bedeutet mürrisch, still
und stur). Jene Trinker bekommen nur die Zähne auseinander, um a hauf
an´ a pint
zu bestellen (einen halben Whisky und ein Bier), dasselbe hinunterzukippen
und auszuspucken. Die Männlichkeit des Glasgower Machos wird nicht an
der Zahl seiner Ableger und Freundinnen gemessen sondern an der bernsteinfarbenen
Flüssigkeitsmenge, die er maximal herunterstürzen kann. Man suche
bitte in Glasgow nicht die singing pubs oder die go-go dancing pubs,
die den Rest Großbritanniens erobern sowie manche Ecken Schottlands
mit puritanischem Ruf, wie z.B. Edinburgh und Aberdeen. Obwohl eine neue Generation
von kultivierteren Gästen und freundlicheren Pubs eingeläutet wurde,
sind die meisten der äußert zahlreichen Schankwirtschaften in der
Stadt reine Abfüllstationen, an denen sich einfältige Kalvinisten
– selbst wenn sie sich für papistisch oder atheistisch ausgeben – um
den Rest Verstand saufen ... und sich vor ihren Frauen in Sicherheit bringt.