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Wegerecht

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Schottische Balladen

»Mit Vergnügen atme ich eine weniger rauhe Luft ein, als
die jenes poetischen Kaledoniens, dessen kalte Landschaften von
nahem betrachtet soviel an Bedeutung verlieren ... wenn Edinburgh
durchlaufen, der erste recht kesselförmige See überquert,
der erste Ausblick auf die ziemlich sterile Küste bewundert,
der Abstieg ins erste sumpfige Tal vollzogen und der erste heidekrautbewachsene
Berg erklommen wurde, dann haben Sie ganz Schottland gesehen.. Hier
bin ich nun endlich, dem Reich der Monotonie entkommen.«

Marquis de Custine, 1830.

Wegerecht

Wohin gehen? Wo anhalten? Was anschauen? Unwichtig! In Schottland, mehr
noch als anderswo, transzendiert die Suche ihr Objekt. Es gibt dort auch nur
eine einzige Frage zu berücksichtigen: wie reist man am besten? Und natürlich
auch nur eine einzige akzeptable Antwort: zu Fuß. Schottland lädt
ständig zum Fußmarsch ein; seine Literatur ist eine epische und
poetische Hymne zu Ehren des Geländelaufs. Lesen Sie Die Abenteuer
des David Balfour
von Stevenson oder Die 39 Stufen von John Buchan,
und Sie werden nur noch von einer fixen Idee besessen sein, nämlich durch
die muirs (Heidelandschaften) zu laufen, die bens (Berge) zu
erklimmen, die corries (Talkessel) hinabzusteigen, die glens
(Täler) zu durchmessen, durch ein Torfmoor zu waten (peat bog),
Ihren Durst mit dem Wasser eines burn (Bach) zu löschen und sich
auf einem Heidekrautteppich (heather) zu lagrn, der je nach Jahreszeit braun,
weiß oder violett ist, am Rande einer jener unzähligen lochans
(kleine Seen), deren Farben sich ständig ändern.

In diesem Land wird niemand auf den Gedanken verfallen, Sie am Durchgang
zu hindern. Denn die Schotten, die doch im Laufe der Jahrhunderte auf nicht
wenige Dinge verzichten mußten, werden niemals zulassen, dass man
ihr wertvollstes Privileg anrührt: das öffentliche Wegerecht – aufrechterhalten
durch Generationen von cattle drovers (Viehtreiber), später dann
von Wanderern – durch die riesigen Landgüter in den Highlands. Ich erinnere
mich an einen Frühlingsausflug in die Grafschaft Argyll in Begleitung
von Glasgower Freunden. Wir verlassen die Stadt mit dem Bus und fahren bald
darauf an den Vulkanhügeln von Kilpatrick vorbei. Das Heidekraut, das
seinen Angriff auf die ausgemergelten Hänge beginnt, hat schon einen
dunkelroten Farbton angenommen, während gegenüber, jenseits des
Clydes, wo das Grau mit den rostfarbenen Schimmern noch über das Blau
herrscht, nach wie vor einige Flecken schmutzigen Firnschnees in den Kerben
der Höhen von Renfrew überdauern. Weiter geht´s in Richtung Norden.
Die ruhige Oberfläche des Loch Lomond, übersät mit kleinen,
bewaldeten Inselchen, erstreckt sich beiderseits der geographischen Grenze
zwischen den High- und den Lowlands, am Fuße der natürlichen Zitadelle
des verfluchten MacGregor Clans, dem Ben Lomond. Das in den Felsnischen wuchernde
Farnkraut sprenkelt den dichten und düsteren Nadelbaummantel, der den
Berg bis auf halbe Höhe bedeckt, mit flaschengrünen Tupfern. Das
südliche Seeufer, nicht weit genug von Glasgow entfernt, erinnert bisweilen
an den Luna Park; aber an diesem frischen frühen Morgen findet der See
seine ganze wilde und rauhe Würde wieder, insbesondere in seinem engsten
Abschnitt, jenseits von Luss. Wir erreichen das Dorf Tarbet (von tarbe(r)t,
Isthmus). Einst zogen die Wikinger ihre Schiffe über die über zehn
Kilometer lange Festlandstrecke, die an dieser Stelle den Loch Long (Fjord)
vom Lomond (Süßwasser) trennt. Wir biegen nach Westen ab, in Richtung
eines felsenbewehrten Horizonts. Hinter Arrochar macht die Romantik der Fluten
den von Wind und Wetter zerfurchten Bergmassive Platz. Oben auf dem Rest and
Be Thankful Paß (wörtlich: »Ruh´ Dich aus und sei dankbar«), setzt
uns der Bus am Fuße des Cobbler (870 m) ab, dem klassischen Ausflugsziel
der Glasgower Sonntagswanderer.

Je höher man kommt, desto stärker zeichnet sich in Richtung Südwesten
ein Auf und Ab von Mulden und Buckeln ab: ein Loch, ein Bergkamm, ein Loch,
ein Bergkamm, und so weiter, in einer fahlroten und violetten Schattierung,
bis hin zu den zugeschneiten Bergspitzen der Insel Jura, den Paps, die oberhalb
der milchigen Kerben der Küste glitzern wie die Perlen an einem mondänen
Dekolleté. In Richtung Norden dagegen begünstigt das regelmäßige
Profil des Hochlandplateaus spektakuläre Erscheinungen nicht gerade:
ein kahler Boden, baumlos, leicht gewellt, den hier und dort der türkise
Fleck eines lochan, die zerklüftete Silhouette eines moosbewachsenen
Felsens oder das komische Trippeln eines jener Schafe mit den schwarzen Köpfen
auflockert. Es ist angenehm dort, der leichte Wind hat sich gelegt, die Atmosphäre
wird von einer sanften Feuchtigkeit durchdrungen. Die Bodenstruktur selbst
verleiht dem Ort eine fast mütterliche Zärtlichkeit. Der schwammartige
Torf dringt überall ein und dämpft so den Aufprall der Schritte.
Man spürt zwischen jedem Büschel Heidekraut, wie weich und nachgiebig
er ist. Die Bäche entstehen in dieser schwarzen Masse und graben sich
dort ihr Bett, wobei sie in Kanälen und Tunneln abfließen, deren
zerbrechliches Gewölbe unter den Schuhsohlen nachgibt.

Der Friede großer Räume; Einsamkeit, die zur Meditation ein ...
»Hallo! Sie dort drüben!« Die Karikatur des Gentleman-Farmers mit Tweedanzug
und -hut, Reitstiefel, Reitgerte und Setter, der uns anruft, ist hinter einer
kleinen Felsenanhöhe aufgetaucht. »... sind auf meinem Grundstück
... abhauen ..., usw.« stößt er in Oxford-Englisch hervor. – »OK
Jimmy. Wegerecht. Willst du die Ärmel hochkrempeln?« Der junge laird,
zweifellos durch die selbstsichere Vulgarität des Glasgower Akzents verstört,
beharrte nicht weiter darauf; aber wir waren nur knapp an einem Faustkampf
vorbeigekommen.

Was heißt hier »eintönig«?

In Schottland sind sowohl in der Natur als auch in der Kultur dour
und douce nie weit voneinander entfernt (hart und weich: wieder einmal
zwei Entlehnungen aus dem Französischen zur Zeit der franko-schottischen
»Alten Allianz«). Oftmals tritt die Gewalt in Gestalt eines Mals auf, das
die Landschaft verschandelt: etwa das abgezogene, zerfetzte Fell eines inmitten
des Heidekrauts verendeten Mutterschafs, einem alten Putzlappen gleich, der
auf einem Luxusteppich herumliegt; die schwärzliche Narbe eines abgebrannten
crofts in der Heidelandschaft des Strath Naver; der Tintenklecks einer
tiefhängenden Wolke, bereit, ihre kummervolle Ladung herabzuschütten;
die hellen Marmorierungen am Fuß der Steilklippen, dort, wo atlantische
Wellen die Basaltsäulen aushöhlten, um jene »Fingalgrotte« auf der
Insel Staffa zu formen, in der Jules Verne das einzige wahre Bravourstück
in seinem Werk Das grüne Leuchten (Fischer Tb) in Szene setzt.

Am äußersten nordwestlichen Punkt des Festlands liegt, von allen
Winden und Gezeiten durchgeschüttelt, die sich dort verfangen, das Cape
Wrath
. Zwei Wege führen dorthin. Von Ullapool nach Durness enthüllt
jeder Umweg der Weststraße die unerwarteten und kühnen Umrisse
einer verlassenen Bergspitze, die über die wüstenartige Heidelandschaft
hinausragt: Ben More Coigeach, Suilven, Ben More Assynt, Cul Beag, Quinag,
Arkle, Foinaven – eine steinerne Armee aus urgeschichtlichen Wachposten, neben
denen die Grampian Mountains sich wie blasse Anfänger ausnehmen.

Die weißen Sandstrände, zwischen den Steilklippen eingelassen,
laufen unterhalb der Nordstrecke auseinander, die zwischen Thurso und Durness
am Atlantik entlang und um die kyles herumführt, jene tiefen Einbuchtungen
des Ozeans, bei denen sich die Bereiche von Wasser und Festland vermengen
und ständig durcheinandergeraten. Man kann mit dem Privatwagen nicht
bis zum Kap vordringen, sondern muß mit der kleinen Fähre den von
Wasserstrudeln gespickten Kyle of Durness überqueren, um dann
per Kleinbus auf der fünfzehn Meilen langen Piste durch eine Kulisse
aus Hochheide und Schluchten von außergewöhnlicher Trostlosigkeit
weiterzurumpeln. Man ist versucht, sich seine einzigen Bewohner – Hirsche,
Hasen sowie rund ein Dutzend Vogelarten – einmal näher anzuschauen, aber
Vorsicht, denn die Königliche Luftwaffe nutzt die Halbinsel als Schießplatz.
Das Cape Wrath verdient seinen Namen, Kap des Zorns, zu recht: es steht
im Mittelpunkt des Kampfes zwischen Fels und Meer, perlmuttartig die Zacken
der Klippen, schäumende Gischt auf den Riffen, Schreie der Kormorane
und Papageitaucher, Gezeter der Möven, Crescendo der Brecher, das mahlende
Geräusch der Kiesel am Grund der Bucht, Sprühregen an der Küste
von Lewis, Abenddämmerung des Alten Kontinents.

Aber übertreiben wir nicht! Die schottische Landschaft darf nicht reduziert
werden auf die Klischees prächtiger Herbheit, romantischer Rätselhaftigkeit,
Heftigkeit und Leidenschaft, populär gemacht durch Macpherson, Scott
und Mendelssohn (Halten wir übrigens hier einmal fest, dass der
romantische Sturm par excellence, den der Halb-Schotte Byron in seinem Childe
Harold
beschreibt, als Rahmen den ... Genfer See hat!). Den dramatischen
Kompositionen der Gemälde eines Landseer, eines McCulloch oder eines
Reverend Thomson kann man die überirdische und strahlende Erhabenheit
der schottischen Natur gegenüberstellen, so wie sie McTaggart malte.

Der ungewöhnlich lange Lairg Ghru Paß führt durch die Cairngorms
von Norden nach Süden. Falls das Gespenst des im Umkreis spukenden Grauen
Mannes es versäumen sollte, den Wanderer zu überraschen: sicher
wird er es beim Anblick des deutlichen Gegensatzes sein, der sich zwischen
dem unerbittlich rauhen Speyside-Hang auf dem Weg und dem lieblich-fröhlichen
Charme zum Hochtal des Dee hin auftut. Die Oberfläche wird sanfter, die
Täler weiten sich zu Ebenen, die Pflanzendecke wird weniger karg. Birken
und Nadelbäume weichen Eichen und Buchen, Ulmen und Eschen. Im Herbst
ruft zwar das Aufflammen der Waldkirschbäume noch einmal den wilden Naturzustand
der westlichen Heidelandschaften in Erinnerung, aber die gerade Linienführung
der Feldbestellung hat dann nichts mehr mit dem Labyrinth der brachliegenden,
mit unregelmäßigen Felsen gespickten, glens gemeinsam.

Regelmäßige, sanft gewellte Formgebung in den Mearns und in Strathmore.
Der bunte Flickenteppich der Hafer-, Gersten- und Kohlrabifelder blendet die
an Pastelltöne der Highlands gewöhnten Augen. Im Schutze des dichten
Buschgeländes des Carse of Gowrie, am Tay entlang, drängen sich
Johannisbeersträucher, Erdbeerpflanzen und Himbeerranken. Der Forth bummelt,
bevor er sich in seine Mündung stürzt, er vergißt sich in
Sümpfen und verspätet sich in Flußschleifen. Der Tweed schlängelt
sich durch das Grünland der Borders; er gräbt sich, wie auch seine
Zuflüsse, in breite, zur Besiedlung geeignete Täler ein, die sogenannten
dales. Aber obwohl die Heidelandschaft zurückweicht, gibt sie
sich dennoch nie geschlagen. Ganz im Süden Schottlands, auf den abgerundeten
Bergrücken des Höhenzugs, der es von England trennt, auf den Hügeln
Galloways, wachsen nur die niedrigen Mäuerchen aus aufeinandergeschichteten
Steinen, die seit Jahrhunderten das Gebiet der Cheviot-Schafe umgrenzen.

Was diese verschiedenartigen Landschaften verbindet? Die Allgegenwart von
Torf und Wasser, die Helligkeit eines wechselhaften Himmels, der eine ständige
Einladung zum Wunderbaren bildet und wesentlich näher und belebter zu
sein scheint als anderswo, sowie der Duft Schottlands, jenes ganz besondere
Destillat aus Heidekraut und Torf, aus Birke und Kiefer, Moos, Myrte, Farn,
Distel und frischem Wasser, das Ganze abgeschmeckt mit einer Prise Salz, mehr
oder weniger jodhaltig, je nach Nähe zum Meer, das nie weiter als achtzig
Kilometer entfernt ist. Bei einer Tour durch Schottland entwickelt man seinen
Geruchssinn erheblich, um so mehr als man sich nicht in allen Fällen
auf seine Augen verlassen kann. Ein einfacher Spaziergang kann schnell einmal
zum Abenteuer werden. Bevor Sie sich überlegen, ob Sie im Hemd oder im
Anorak zum Picknick gehen, werden Sie gut daran tun, die folgende schottische
Redensart zu beherzigen, die freilich ein wenig übertreibt): »Wenn Du
den Hügel dort drüben sehen kannst, heißt das, dass es
bald regnen wird. Wenn Du ihn nicht sehen kannst, heißt das, dass
es regnet.«