Machen wir ein Buch?

Reise, Sachbuch, Belletristik ...?
Alle interessanten Themen;
alles was bewegt.

Hier geht´s weiter!

Gegensätze

Body: 

Gegensätze

Das schottische Hochland gehört zu jenem ozeanischen Saum, der sich
in einer bogenförmigen Linie von Irland bis zu den lappländischen
Regionen Rußlands hinzieht und der sich vom Rest des europäischen
Kontinents durch die Rauheit der natürlichen Umwelt stark abhebt sowie
ferner durch die Allgegenwart des Meeres, die Verstreuung des Siedlungsraums
und die ethnische Ursprünglichkeit äußerst typischer Bevölkerungen:
Kelten, Lappen, Skandinaven, Samojeden. Man könnte erwarten, dass
Irland und das schottische Hochland, am südlichen Rand dieser Zone gelegen,
dort zwei Inselchen des Wohlstands bilden. Nun ist das aber keineswegs der
Fall. Die drei nördlichen Provinzen Norwegens erleben seit Beginn des
Jahrhunderts einen ununterbrochenen Bevölkerungszuwachs; sie sind mittlerweile
doppelt so dicht bevölkert wie die Highlands. Auf halber Strecke zwischen
Schottland und Island melden die Färöer Inseln (vierzigtausend Inselbewohner)
auch zweimal so viele Einwohner wie ihre Zwillingsschwestern im Süden,
die Shetlandinseln, wobei in diesem Fall die Verhältnisse genau umgekehrt
sind, bezogen auf die von 1900 (fünfzehntausend Färöer, achtundzwanzigtausend
Shetlander). Ein vergleichbares Ausbluten findet auf den Orkneyinseln statt,
von dreißigtausend Seelen im Jahr 1900 auf neunzehntausend im Jahr 1990
reduziert sowie auch auf den Äußeren Hebriden (von fünfundfünfzigtausend
auf einunddreißigtausend).

Warum dieses Durcheinander? Die Leute auf den Färöern haben doch
weder die Ponys, noch die Wollwaren, noch, im Moment jedenfalls noch nicht,
das Erdöl der Shetlandinsel. Aber als in den zwanziger Jahren die Heringe
plötzlich auf die Idee verfielen, sich anderorts fangen zu lassen als
in den Gewässern dieser beiden Inselgruppen, da wurden den Fischern ersterer
Insel von der dänischen Regierung die Mittel gestellt, um sich auf den
Kabeljaufang umzustellen. Ihre schottischen Kollegen dagegen mußten
sich ganz alleine durchschlagen, der kaum verschleierten Ungeduld der Londoner
Regierenden bezüglich der bloody nuisance ausgesetzt, der verdammten
Spielverderber, welche diese parasitären Inselbewohner waren, in Westminster
insgesamt und für alles durch zwei Abgeordnete vertreten. Je schneller
sie von ihren Inseln fliehen würden, desto besser ginge es den Finanzen
des Landes.

In einem ersten Stadium schafft man also eine Fürsorgesituation, sprich
eine Mentalität des Handaufhaltens, indem man jegliche lokale Initiative
im Keim erstickt. Während die Dänen Island 1944 seine Unabhängigkeit
gewährten und den Färöer Inseln 1958 weitreichende Selbstverwaltung,
bestanden die Briten weiterhin darauf, die Hebriden von zwei Städten
an der Ostküste der Highlands aus zu verwalten, nämlich Inverness
und Dingwall. Die wichtigsten Dienstleistungen wurden dort zusammengezogen,
das Gymnasium miteingeschlossen: sobald sie elf Jahre alt waren, mußten
die kleinen »begabten« Hebrider eines Tagesreise vom elterlichen Haus entfernt
ins Internat fahren. Die größte Insel wurde verwaltungsmäßig
zweigeteilt, wobei Harris von Inverness abhing und Lewis von Dingwall – obgleich
Stornoway, die »Hauptstadt« der Insel, mit ihren sechstausend Einwohnern doppelt
so stark bevölkert war wie der Hauptort der Grafschaft. Es mußte
erst die Reform der lokalen Regierung von 1975 abgewartet werden, damit die
Äußeren Hebriden endlich eine alleinige Verwaltungseinheit bilden
konnten.

In einer zweiten Phase geizt man dann mit Unterstützung. Anstatt sich
nach Inverness ins Exil begeben zu müssen, können die kleinen Genies
von Barra von nun an die fortbildende Schule in ... Stornoway besuchen, hundertachtzig
Kilometer und vier Meeresarme nördlich von ihnen entfernt. Die Regierung
und das schottische Erziehungsministerium weigern sich, den Bau einer comprehensive
school
(Gesamtschule) zu subventionieren, welche die südlichen Inseln
des Archipels versorgen würde (North Uist, Benbecula, South Uist, Eriksay,
Barra), wo 1990 (noch! ist man versucht, sich zu wundern) an die siebentausend
Menschen lebten, gegenüber mehr als neuntausend im Jahre 1980. In diesen
isolierten Gegenden erscheint die Subventionierung der öffentlichen Verkehrsmittel
durch den Staat als lebenswichtige Notwendigkeit. Eine Eisenbahnlinie stillzulegen,
eine Straße, eine Brücke oder eine Fähre herunterkommen zu
lassen, heißt, die davon abhängenden Gemeinden zum Tode zu verurteilen.
Die norwegischen Behörden haben dies wohl verstanden und wachen daher
sorgfältig über den Zustand der Verbindungen zu Land, Meer und Schiene
in ihren nordischen Provinzen. Wahrheit diesseits der Nordsee, Fehler jenseits.
Wer eines Tages die Dienste der Gesellschaft Caledoniam-MacBrayne´s
(Fähren und Busse in den Highlands) in Anspruch nehmen mußte, konnte
feststellen, dass sie trotz kürzlich unternommener, löblicher
Anstrengungen die Region nur in einem einzigen Sinn des Wortes versorgt: schlecht
abgestimmte Fahrpläne, überaltertes Material, unerschwingliche Tarife.
Seit Jahrzehnten fordern die Inselbewohner vergeblich, dass man bei ihnen
das Prinzip der territorialen Kontinuität anwendet, d.h., dass man
den Schiffstarif auf den der Züge ausrichtet. Die Korsen haben dies erreicht,
indem sie das Pulver sprechen ließen. Wird man auf den schottischen
Inseln so weit gehen müssen? Es war jedenfalls die nationalistische Drohung
bei den Wahlen im Februar 1974 vonnöten, damit die Regierung unter Herrn
Heath ihre unheilbringende Entscheidung zurücknahm, die Bahnverbindung
Dingwall-Kyle of Lochalsh stillzulegen. Die Schneestürme im Winter 1977-78,
die den Tod mehrerer auf den Highlandstraßen steckengebliebener Autofahrer
verursachten, bewiesen auf grausame Weise, dass das Auto dort niemals
die gleichen Dienste wird erweisen können wie der Zug.

In einem dritten Stadium wird jegliche Hilfeleistung unterlassen und, falls
notwendig, werden Widerspenstige zur Landflucht getrieben. Wer zufällig
einmal bis nach Applecross vorstößt, einem am Ende einer Halbinsel
gegenüber Raasay verborgen liegenden Weiler, wird unweigerlich vom Bealach
nam Ba
, dem Rinderpaß, beeindruckt sein, einem der höchsten
im Lande und zweifellos der spektakulärste. Wenn Sie sich dem unerläßlichen
Aussichtsparkplatz unterwerfen (im Westen, Skye und der Ozean; im Osten, die
Gipfel von Torridon), so gedenken Sie der Leute von Applecross in Dankbarkeit:
als sie 1963 die Verwaltung zum zigsten Mal darum baten, doch bitte endlich
eine Straße bis zu ihrer isolierten, todgeweihten Gemeinde hin anzulegen
(1860: fünfhundert Einwohner; 1960: fünfzig; 1980: dreißig),
ließ man sie wissen, dass es wirtschaftlicher sei, sie umzusiedeln.
Aber sie hielten durch und bekamen schließlich eine Schotterstraße
mit immerhin einer geteerten Spur gewährt. Ohne ihre Hartnäckigkeit
hätten wir Touristen niemals unserem Wagen ein solches Panorama bescheren
können – und die Wills, die hiesigen Grundeigentümer, hätten
niemals fruchtbare Bodenspekulationen treiben können.

Andere kamen weniger gut weg, so z.B. die Bewohner von Saint-Kilda, einem
winzigen verlorenen Archipel, über hundert Meilen westlich von Harris.
Die britische Regierung von 1930, angeführt vom schottischen Arbeiterparteimitglied
James Ramsay MacDonald, befand, dass sie zuviel Geld in Form von Subventionen
und anderen Beihilfen verschlangen, und siedelte die Inselbewohner daher ganz
einfach um. Dabei überließ sie Tausenden von Eissturmvögeln,
Papageitauchern und Tölpeln von Bassan ein Gebiet, dass der Mensch
schon seit Urzeiten bewohnt hatte. Eine kurze Abwesenheit allerdings, denn
dreißig Jahre später richtete die Armee ihrer Königlichen
Majestät auf Sain-Kilda eine Militärbasis ein, scheinbar weniger
kostspielig im Unterhalt als eine Handvoll praktisch autark lebender Bauern-Fischern-Vogelfänger.
Halten wir jedoch fest, dass das Militär offenbar nicht ganz so
desinteressiert am schottischen Hochland ist wie die zivilen Kräfte:
South Uist und Benbecula sind gespickt mit Raketenbasen, und weniger als dreißig
Meilen Luftlinie von den zwei Millionen Einwohnern des Glasgower Ballungsraums
entfernt, hält der Holy Loch in seinen Tiefen Monster verborgen, die
wesentlich beunruhigender sind als Nessie, das geheimnisvolle Geschöpf
im Loch Ness: NATO U-Boote, die Atom-Raketen an Bord haben. Es ist jedoch
tröstlich festzustellen, dass bislang niemand auf die Idee verfiel,
die Jagdgebiete in den Highlands zu verminen. Zweifellos aus Rücksicht
auf die Hirsche.