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Politik

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Die nationalistische Erneuerung

»Wenn die Ja-Stimmen höher liegen als die Neinstimmen, ohne dabei jedoch
die 40% Schwelle zu erreichen«, prophezeite der Historiker O.D. Edwards 1979
kurz vor dem Referendum, »läuft dies auf Gewalt hinaus, auf dies Gründung
einer schottisch-republikanischen Armee.« Weit gefehlt: ähnlich unbekannt
wie es rund zehn Jahre zuvor die schnell von der SNP verurteilte Scottish
Tartan Army
gewesen war, vegetierte die 1980 gegründete Scottish
National Liberation Army
nur einige Jahre vor sich hin, bevor sie mangels
Mitstreiter einging. Was die SNP angeht, so hatte diese Riesenschwierigkeiten,
sich von einer Niederlage zu erholen, für die ihre Ausflüchte teilweise
verantwortlich waren, zumal gleichzeitig in der politischen Mitte ein Rivale
auftauchte: die sozialdemokratische Partei SDP, die mit den Liberalen ein
Wahlbündnis einging, das besonders attraktiv in Schottland war, mit seiner
alternden Labourbewegung und der verwurzelten liberalen Tradition. Einer der
beiden Anführer des Bündnisses wurde übrigens der junge Abgeordnete
aus den Borders, David Steel. Die Wahl für Wahl auf den dritten,
dann auf den vierten Rang der politischen Kräfte Schottlands (12% der
Stimmen bei den Parlamentswahlen von 1983, 14% vier Jahre später) verwiesene
Scottish National Party schien einem unerbittlichen Verfall geweiht.
Der Fall der Erdölaktien, die Auflösung der Allianz und vor allem
Mrs. Thatchers wiederholte Provokationen ließen sie wieder auf äußerst
spektakuläre Weise Oberhand gewinnen: mit 25% der Stimmen (und einem
Sitz, den der Highlands und Islands) bei den Europawahlen von
1989, mauserte sich die SNP zur zweiterfolgreichsten Partei Schottlands, zwar
hinter der Labour Party (42% der Stimmen, sieben Sitze), aber deutlich
vor den tories der Premierministerin (21%, kein Sitz). Das voraussehbare
Ende einer Entwicklung, bei der die Konservativen 1987 nur zehn der zweiundziebzig
Abgeordnetensitze des kaledonischen Kontingents ergattern konnten (drei SNP,
fünfzig Labour, neun Allianz) und im darauffolgenden Jahr nur die Kontrolle
über vier der dreiundfünfzig schottischen Bezirke behielten. Im
Jahre 1992 sahen die Ergebnisse wie folgt aus: Labour neunundvierzig Sitze
(39%), Konservative elf Sitze (25,7%), SNP drei Sitze (21,5% und damit ein
Plus von 7,5% gegenüber 1987), Liberale neun Sitze (13,1%) !!

Es überrascht auch kaum, dass bloß einer von sieben Schotten
der Meinung ist, dass Mrs. Thatcher »das moralische Recht hat, Schottland
ihre Entscheidungen aufzuzwingen«. Sie hielt sich allerdings deswegen nicht
gerade zurück. Es geht ja noch an, dass die Eiserne Lady die finanzielle
Unterstützung zur Regionalentwicklung halbierte, denn die Schotten wissen
ganz genau, dass ihre Wirtschaft einer gehörigen Sanierung bedurfte.
Sie sind dagegen weniger gewillt, die Privatisierung der Busgesellschaften
zu schlucken, was sich katastrophal auswirkt in den verlassenen Gebieten der
Highlands bzw. überhaupt allgemein in einer Nation, die den schwächsten
Motorisierungsgrad im ganzen Vereinigten Königreich aufweist. Oder aber
die Einmischung des Erziehungsministers in ihr Schulsystem, das sie zu recht
als demokratischer und effektiver als das englische ansehen. Vor allem aber
lehnten sich die Schotten auf, endlich einmal so gut wie einstimmig, als die
Premierministerin ein neues Berechnungssystem bei den örtlichen Steuern
einführte, über das sie letztlich ja auch politisch stolperte. Gipfel
der Provokation war, dass diese poll tax, die besonders ungerecht
ist, weil sie in absoluten Zahlen eine arme kinderreiche Familie stärker
belastet als ein wohlhabendes kinderloses Ehepaar, in Schottland im Mai 1989
eingeführt wurde, also ein Jahr früher als in England! Trotz umgehender
Abschafftung durch Major werden sich die Konservativen in Schottland davon
nur mühsam erholen, wobei noch erschwerend hinzukommt, dass sie
die einzige Partei sind, die sich jeglicher Form von devolution widersetzt
und erst recht der Autonomie, während alle Umfragen bestätigen,
dass drei Viertel der Schotten Ende der achtziger Jahre eine Verfassungsänderung
forderten, in gleicher Weise geteilt zwischen Anhängern der Dezentralisierung
und Verfechtern der »Unabhängigkeit im Schoße Europas«.

Hinwendung zu Europa

Zehn Jahre Thatcherismus hat die schottische Wirtschaft weitgehend zugrundegerichtet.
Mangels staatlicher Zuwendungen brachen ganze Industriezweige zusammen. Von
den siebzehntausend Bergarbeitern, die 1984 einen dann zwei Jahre dauernden
Streik begannen, bleibt heute nurmehr eine Nachhut von zweitausendsechshundert
Zurückgestellten, die in den beiden ständig von der Schließung
bedrohten Gruben beschäftigt sind, von denen eine in Fife und die andere
bei Edinburgh liegen. Schottland ist sicherlich nach wie vor eher ein Arbeiterland
(52% der erwerbstätigen Bevölkerung verrichten manuelle Tätigkeiten)
als England (47%), aber mittlerweile beschäftigt dort die elektronische
Industrie mehr Personal als die Bereiche, auf denen sich die Blüte Schottlands
begründete zusammen, nämlich die Textilindustrie, der Schiffsbau,
die Metallindustrie und die Kohleförderung. Gewiß, neben dem Erdöl
kann die schottische Wirtschaft auf einige verhältnismäßig
wohlhabende Unternehmen zählen. Zwischen Glasgow und Edinburgh stellt
»Silicon Glen«, ohne dabei die Berühmtheit seines kalifornischen Namensvetters
zu erreichen, die höchste Dichte von Unternehmen auf dem Informatiksektor
in Europa dar; Edinburgh ist ein wichtiges Finanzzentrum, das stolz die bedeutendste
Versicherungsgesellschaft Europas sein eigen nennt. Es handelt sich jedoch
dabei um risikoreiche Bereiche, mit mehrheitlich ausländischen Geldern
und Märkten, und daher recht unsicher. Silicon Glen beispielsweise war
1985 hart vom Zusammenbruch des Halbleitermarktes betroffen. Globaler gesehen
stellt man übrigens fest, dass, auf das Wachstum des Bruttosozialprodukts
bezogen, Schottland in der Zeit zwischen 1987 und 1990 regelmäßig
letzter war im britischen Klassenverband (abgesehen von Nordirland) und dass
dort die Arbeitslosenzahlen deutlich oberhalb des nationalen Durchschnitts
verharrten, nämlich bei 8,2% gegenüber 5,7% bei M. Thatchers Machtantritt,
und 10% gegenüber 7,25% zehn Jahre später mit einer Spitze von 14,5%
im Jahre 1986.

Ein Kennzeichen der schottischen Wirtschaftsstruktur paßt übrigens
durchaus in dieses eher negative Bild: Schottland folgt sofort auf Kanada
in der Reihenfolge jener Regionen, wo sich amerikanisches Kapital bevorzugt
niederläßt. Von zehn Arbeitern im industriellen Sektor sind sechs
bei nicht-schottischen Unternehmen beschäftigt. Sie stehen natürlich
dann als erstes auf der Abschußliste, wenn im Stammhaus Schwierigkeiten
auftreten, wie alleine in der Region Strathclyde tausende von Entlassungen
zwischen 1979 und 1987 beweisen, verursacht durch die Schließungen der
amerikanischen Fabriken Marathon und Singer in Clydebank, Burroughs in Cumbernauld,
Caterpillar in Uddingston sowie von Peugeot-Talbot in Linwood. Eine unmittelbare
Folge davon ist, dass die Schotten wieder den Weg ins Exil wählen.
Zwischen 1970 und 1990 stieg die Bevölkerung Englands um zwei Prozent,
während die von Schottland genauso stark abnahm: die schottische Auswanderungsrate
ist die zweithöchste in Nordeuropa, dicht hinter dem irischen Nachbarn.
Man schätzt die Zahl der Schotten, die seit 1945 ihr Glück woanders
suchten, auf eine Million bzw. auf zwei Millionen seit 1900. Hier liegt ein
Phänomen vor, das um so katastrophaler ist, als es sich oftmals um »Luxusauswanderer«
handelt, die jung und mit Diplomen überschüttet sind. So fanden
1990 fast die Hälfte der Abgänger kaledonischer Universitäten
ihre erste Anstellung außerhalb Schottlands, und es gibt mehr schottische
Zahnärzte in Kanada als in Schottland!

Zahlen, die ohne die europäische Hilfe noch wesentlich schlimmer ausfallen
könnten: Schottland gehört in absoluten Zahlen zu den zehn am stärksten
von der EG subventionierten Regionen. Diese Tatsache erklärt teilweise
die plötzliche Europafreundlichkeit der schottischen Labouranhänger
und Nationalisten, die unlängst beide noch erklärte Gegner eines
»Europas der Kapitale« bzw. einer »supranationalen Bürokratie« waren.
Ihre Kehrtwendung ist auch politischer Art, Ausdruck der Absicht, über
die Köpfe der britischen Regierung hinwegzuhandeln: die politische Klasse
Schottlands, seit 1979 jedes Einflusses in Westminster beraubt, entdeckte
die Vorzüge des Straßburger Parlaments, so dass die Beteiligung
bei den Europawahlen 1989 in Schottland höher lag als im Rest des Vereinigten
Königreichs, einschließlich der Inseln im Norden, noch vor kurzem
fast durchweg europafeindlich gesonnen.

Schließlich ist diese Hinwendung zu Europa auch vor allem das Ergebnis
eines langen Denkprozesses, geführt seit rund zwanzig Jahren von einer
Anzahl schottischer Intellektueller. Engagierte Denker, wie unter anderem
Tom Nairn, Neal Ascherson oder Chris Harvie, die fortwährend die Dialektik
von Nationalismus / Internationalismus, Klassenkampf / Nationaler Kampf, verwurzelter
Kultur / Kosmopolitentum und anderer teuflischer Paare analysieren, sowie
die Antworten von Gramsci, Walesa oder Debray verbreiten, und die zunächst
von Zeitschriften abgelöst wurden, später dann von manchen Politikern,
haben es erreicht, dass ihre Mitbürger sich der beiden Gefahren
bewußt wurden, denen sich auszuliefern sie sich nicht mehr leisten können:
dem provinzlerischen Isolationismus und seiner Folge, dem ausgleichenden Imperialismus.