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Schmiede von Gretna-Green

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Wie die Schmiede von Gretna-Green zu Wohlstand kamen

Wie enttäuschend: nichts unterscheidet Gretna-Green, die erste schottische
Stadt an der großen Nationalstraße im Westen, auf den ersten Blick
von den letzten englischen Ortschaften hinter Carlisle. Dieselbe Aneinanderreihung
von gedrungenen, weißgetünchten Häusern, pathetisch wirkend
bei ihrem Bemühen um Koketterie; dieselbe uns verlassen anmutende enge
Geschäftsstraße, von den regenbefrachteten Windstößen
des Solway Firth durchpeitscht, jenem Arm der Irischen See, der sich zwischen
die Hügel von Galloway und denen im englischen Lake District schiebt.
Nicht die Spur eines Spukschlosses in der Umgebung, nicht der geringste Kilt
zu erspähen. Die Einheimischen ähneln in jeder Hinsicht den Sassenachs
– eine abschätzige Bezeichnung der Schotten für die Engländer,
die auf den Zustand vulgärer Saxons reduziert werden – auf der
anderen Seite des bescheidenen Straßenschilds mit dem spärlichen
Hinweis »Scotland«: von mittlerer Größe und mittlerem Körperbau,
jeglichen Unterscheidungsmerkmals entbehrend, abgesehen von einem hin und
wieder auftauchenden herrlich feuerroten Haarschopf, ganz banal in einen Regenmantel
gehüllt und mit einer Mütze oder einem verwaschenen Halstuch. Der
Regenmantel, ein sogenannter Mackintosh, ist nach dem Erfinder des wasserundurchlässigen
Stoffs benannt. In Schottland wimmelt es nur so von genialen Erfindern!


Bloß nicht dieser harmlosen Ausstrahlung provinzieller Achtbarkeit trauen!
Nach dem Muster zahlreicher Grenzorte ist Gretna-Green ein berüchtigter
Ort sittlicher Ausschweifung. Was die Banken für Zürich und das
Kasino für Baden-Baden, ist in Gretna-Green die Schmiede, wo schon Tausende,
sich über Zwänge hinwegsetzende, junge Ausländer – vornehmlich
Engländer – in den Genuß der liberalen schottischen Gesetze gelangten:
es erkennt jede Ehe als »regelwidrig, aber legal« an, die durch gegenseitige
Erklärung vor einem schreibkundigen Zeugen geschlossen wurde, und das
ab sechzehn Jahren, ohne Einwilligung der Eltern. Dieser Brauch, der den Schmieden,
Wirten und anderen Schreibkundigen von Gretna ihren Wohlstand sicherte und
für das glückliche Ende manch englischen Melodrams im vergangenen
Jahrhundert sorgte, ist nicht in Vergessenheit geraten. Seit 1939 ist allerdings
die Anwesenheit eines Geistlichen oder Standesbeamten Pflicht. Aber es ist
das Gesetz von 1856 – auf Lord Brougham zurückgehend, der es lange Zeit
bereute, voreilig den Bund der Ehe geschlossen zu haben ... und zwar in Gretna!
– das mittellose Liebende vor das größte Problem stellt: sie müssen
vor der Zeremonie mindestens drei Wochen lang in Schottland gewohnt haben.
So erlebt man nicht selten während der warmen Jahreszeit, wie die eine
oder andere schottische Tageszeitung an die Großzügigkeit ihrer
Leser appelliert – es besteht keinerlei Widerspruch zwischen »schottisch«
und »Großzügigkeit«! – den Heiratskandidaten doch dabei zu helfen,
diese ein wenig drakonische Bedingung zu erfüllen.


Einmal abgesehen vom anekdotenhaften Aspekt, betont die Tradition der Kinderehe
die Besonderheit des schottischen Rechtswesens, bei dem es sich um einen einzigartigen
Kompromiß zwischen englischem Gewohnheitsrecht und der, aus dem römischen
Recht hervorgegangenen, kontinentalen Rechtsprechung handelt. Sie gemahnt
passenderweise den Touristen in der Schmiede von Gretna daran, dass Schottland
im Schoß des Vereinigten Königreichs über einen eigenständigen
politischen Status verfügt.