Machen wir ein Buch?

Reise, Sachbuch, Belletristik ...?
Alle interessanten Themen;
alles was bewegt.

Hier geht´s weiter!

Literatur

Body: 

Piktische Leseratten

»Die Gesellschaft ist unendlich fortgeschrittener in Schottland, wo in mehrerlei
Hinsicht die Regierung gut ist (wenige Verbrechen, Belesenheit, keine Bischöfe,
usw.)«, schrieb Stendhal 1822. Inzwischen haben sich die Kriminellen stark
vermehrt, die katholischen Bischöfe sind über Irland wieder aufgetaucht,
aber die Leser sind zunehmend gieriger geworden. Ein Dutzend Tageszeitungen
erscheinen im Land. Alle hängen mit Firmen zusammen, die im Erdölgeschäft
sind! Die sogenannte »nationale« Presse (d.h. die Londoner Presse) wird dort
kaum gelesen, denn die Schotten meinen zu recht, dass ihre beiden quality
papers
, der Edinburgher Scotsman und der Glasgower Herald,
genauso viel wert sind wie ihre englischen Rivalen, und dass ihre Boulevardpresse
nicht schlechter ist als die Sensationspresse aus der Fleet Street. Die Gesamtheit
der Briten erkennt übrigens den Journalismus als schottische Spezialität
an: zahlreiche Redakteure in London haben einen kaledonischen Akzent und die
unbestrittene Hauptstadt der comics ist, wie bereits erwähnt,
Dundee. Der in dieser Stadt herausgegebenen patriarchalischen und reaktionären
Sunday Post gelingt der Gewaltakt, jeden Sonntag von 80% der Erwachsenen
einer links wählenden Nation gelesen zu werden, ohne es dabei nötig
zu haben, auf die Klischees und Skandalartikel zurückgreifen zu müssen,
an denen sich ihre englischen Konkurrenten weiden. Ein anschauliches Beispiel
für die schottische Zerrissenheit zwischen Individualismus und Autoritarismus,
zwischen Gleichmacherei und Konservatismus. Man versteht die Entrüstung
des marxo-nationalistischen Denkers Tom Nairn: »Schottland wird nicht
eher frei sein, bevor nicht der letzte Pastor mit dem letzten Exemplar der
Sunday Post erdrosselt sein wird.«

Die Arbeiterstadt Glasgow ist auch stolz auf ihre neunundvierzig Leihbibliotheken,
die nicht nur von Gymnasiasten aufgesucht wird, sondern auch von Hinz und
Kunz eines jeden Stadtviertels; selbst die Penner auf der Suche nach Wärme
werden zugelassen, jedoch unter der Bedingung – Puritanismus verpflichtet
– dass sie so tun, als bildeten sie sich: es ist untersagt, dort einzuschlummern.
Ich habe oftmals in der Mitchell Library (der größten Referenzbibliothek
Europas) jene Vorstellung beobachtet, die der Aufseher und die kleinen Männer
mit ihren Mützen lieferten, die sich dort vor dem schlechten Wetter in
Sicherheit bringen wollten. Ich gewann den Eindruck, bei einer psychodramatischen
Vorstellung der Beziehung zwischen dem Schotten und seinem Gott (seinem Pastor,
seinem Grundschullehrer, seiner Ehefrau) dabeizusein: »Achtung, mein Freundchen,
ich behalte dich genau im Auge; ich bin doch nicht blöde: du kommst doch
nur in die Bibliothek (in die Kirche, in die Schule, ins Bett), um dich aufzuwärmen.
Ich werde das dulden, solange wie du die Form wahrst; aber versuche ja nicht,
hier großspurig aufzutreten.«

Neben der Bibliothek besuchen die Schotten auch gerne Abendkurse. Gegen
eine bescheidene Einschreibegebühr können Sie sich, wie in unseren
Volkshochschulen, in den meisten größeren Städten in die Linguistik,
ins Blumenbinden oder ins Inszenieren eines Stückes einführen lassen,
sich im Französischen oder in der Mechanik vervollkommnen, und zwar in
Gesellschaft von Sekretärinnen und Klempnern, Hausfrauen, Studenten und
Rentnern. Eine der unverzeihlichsten Schandtaten der Wilson Regierung bestand
darin, 1976 zahlreiche dieser Kurse durch Streichen der Zuschüsse zum
Sterben zu verurteilen. Keir Hardie, der Bergarbeiter, der 1888 die schottische
Labour Party gründete und sein ganzes Leben lang für die Bildung
der Massen kämpfte, wird sich darüber wohl im Grabe umdrehen.

Literatur: vom Besonderen ...

Eine belagerte Kultur läuft Gefahr, entweder dem Defätismus zu
erliegen – ein Sichausliefern an die dominante Kultur – oder dem Provinzialismus,
einem Sichabschirmen gegen die Außenwelt, einer Verkalkung. »Unser Akzent
und unsere Aussprache sind unbeholfen, und wir sprechen einen ziemlich entarteten
Dialekt der Sprache, die wir benutzen«, jammerte Hume mitten im goldenen Zeitalter.
Die Intellektuellen im Athen des Nordens ließen sich »Briten des Nordens«
oder schlichtweg »Engländer« nennen, und boten alle Kräfte auf,
um ihre Scottizismen loszuwerden. Der Autor Carlyle, der später
die Heimat verließ, da er in Edinburgh nicht das erhoffte Publikum fand,
warf ihnen das verbittert vor: »Schottland quillt über vor Schriftstellern,
besaß aber keine schottische Kultur ... Vermutlich hat es nie eine Schriftstellerklasse
gegeben ..., die so dermaßen bar ... jedes patriotischen Gefühls
war.« Wenn man bedenkt, dass manche unter ihnen – und zwar nicht die
geringeren – sogar Burns rieten, das Schottische zugunsten des Englischen
aufzugeben! Er zog es glücklicherweise nicht in Erwägung und verwendete
Popes Sprache nur in einigen frommen und weinerlichen Gedichten, an die er
in aller Offensichtlichkeit nicht glaubt.

Die Kluft zwischen dem Gesagten und dem Geschriebenen, dem Gedanken (englisch)
und dem Erlebten (schottisch) erreicht ihren Höhepunkt in Scotts Romanen:
die in einem lebendigen und scharf beobachteten scots gehaltenen Dialoge
scheinen oftmals aus einer anderen Feder zu stammen als der ziemlich unverdauliche
englische Pudding, der sie verbindet. Burns´ und Scotts Universalgenie erlaubte
es ihnen jedoch, trotz ihrer schottischen Themen die Klippe des Provinzialismus
zu umschiffen. Ihre Nachfolger dagegen stürzten sich blindlings darauf
(und das Portemonnaie weit geöffnet). Die Dutzende viktorianischer Schreiberlinge,
von denen der bekannteste Sir James Barrie, Autor von Peter Pan,
bleibt, bloße Nachahmer der beiden bedeutenden Barden, die (schon) die
»Retro-« und die »Öko-«masche ausschlachteten, verbreiteten in der ganzen
anglophonen Welt das verdummende Bild eines ländlichen, idyllischen,
angepaßten und etwas verblödeten Schottlands. Diese Zuhälter
der Literatur sind in den Anthologien unter dem Sammelbegriff kailyarders
zu finden, »Kohlfeldschriftsteller«.

... zum Allgemeinen

Nur zwei einsame Talente, nämlich James Hogg und Robert Louis
Stevenson
, verweigerten sich dieser Prostitution ihrer Kultur. Anzumerken
ist, dass auch sie, niedergeschmettert durch die Widersprüche in
ihrem Land, ihr Heil in der Flucht suchten. Aber sie besaßen wenigstens
die Ehrlichkeit, sich eher ins Übernatürliche und in die Vergangenheit
zu flüchten als in den bukolischen Pseudorealismus. Beide stellen mit
Nachdruck die schizoide Zerrissenheit des zwischen seinen Wünschen und
seinen Überzeugungen hin- und hergerissenen Schotten dar. Stevenson gegen
Ende des Jahrhunderts natürlich mit dem Seltsamen Fall des Doktor
Jekyll und des Dr. Hyde
aber auch mit dem düsteren Roman Der Junker
von Ballantrae
und den unvollendeten Herren von Hermiston; Hogg,
Hirte und bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr Analphabet, rund fünfundsiebzig
Jahre zuvor mit seinem kraftvollen Widersacher – oder wie ein junger
Presbyterianer alle möglichen verabscheuenswürdigen Verbrechen begeht,
durch einen kalvinistischen Mephisto darin bestärkt, dass nichts
von dem, was er auf Erden tut, das Heil in Frage stellen kann, zu dem Gott
ihn prädestinierte. Es ist bedauernswert, dass die Bemühungen
von André Gide, der ihn wiederentdeckte, nicht dazu führten, diesen
wegen seines sparsamen Stils, der geschickten Struktur und der Tragweite des
Themas bemerkenswerten Roman besser bekanntzumachen. Hogg legt eine wahrhaftige
Allegorie der puritanischen Seele vor, die sich neben Werken, wie Der Scharlachrote
Buchstabe
und Hexenjagd nicht zu verstecken braucht.

Die schottische Literatur gefällt den Kindern, denn sie flüchtet
vor der Wirklichkeit in eine imaginäre Scheinwelt. Das 19. Jahrhundert
war zwar die Epoche der rasanten Industrialisierung und Verstädterung,
brachte aber nicht den geringsten städtischen, realistischen oder naturalistischen
Romancier hervor.

Das 20. Jahrhundert wird dagegen zum Zeitalter der Entmythologisierung.
Schon vor dem Ersten Weltkrieg läuten zwei zornige junge Männer
das Ende der ländlichen Künstelei ein: George Douglas Brown
und George MacDougall Hay sezieren ein Dorf in Ayrshire (Das Haus
mit den grünen Fensterläden)
bzw. einen kleinen Hafen in Argyll
(Gillespie) mit Hilfe eines Skalpells, das so scharf ist wie das der
kailyarders stumpf war. Die »schottische literarische Renaissance«
zwischen den beiden Weltkriegen versucht, einen anderen Mythos zu entlarven:
das Schottische legt einwandfrei Rechenschaft ab von dem, was mit Körper
und Natur zu tun hat; für alles andere vgl. das Englische.

Hugh MacDiarmid (Christopher Murray Grieve), Nationalist der ersten
Stunde, 1928 Mitbegründer der National Party, unverbesserlicher
Stalinist (von der kommunistischen Partei wegen nationalistischem Abweichlertums
ausgeschlossen, beantragte er seine Wiederaufnahme im ... November 1956) und
unermüdlicher Polemiker, worunter seine Nachkriegsgedichte sowie seine
gesamte Prosa leiden, war der große Urheber der literarischen Erneuerung
der Sprache der Lowlands. Seine langen, auf schottisch geschriebenen Gedichte
(Sangshaw, "A Drunk Man Looks At The Thistle", usw.), die ihn auf die
Stufe seiner Zeitgenossen T. S. Eliot und Ezra Pound heben, legen Zeugnis
ab vom dichterischen Genie der Sprache. Zur gleichen Zeit vollendet Sorley
MacLean
(Somhairle Mac Gill-Eain) ein Werk ähnlicher Tragweite für
das Gälische. Ersterer veröffentlicht eine Ode an Lenin (First
hymn to Lenin) und letzterer die Gedichtsammlung Dàin do Eimhir
agus Dàin Eile
, dem spanischen Bürgerkrieg gewidmet, wodurch
sie beide darlegten, dass es möglich ist, ihre jeweiligen Sprachen
aus dem Ghetto provinziellen Kitsches zu lösen.

Im Prosabereich ist die Vorführung weniger überzeugend. Lewis
Grassic Gibbon
verfaßt seine Trilogie A Scots Quair (Ein Schottisches
Buch)
– ein sozialer Roman über das Leben auf dem Lande, das mit
der Klangfülle und den Redewendungen des Schottischen aus dem Nordosten
gespickt und belebt ist. Dagegen verfassen Neil Gunn (Morning Tide;
Highland River), Compton MacKenzie (Das Whisky-Schiff)
und Eric Linklater (Magnus Merriman) ihre den Highlands bzw. im letzteren
Fall den Inseln im Norden gewidmeten Romane auf »Standard-« Englisch. Dasselbe
gilt in jüngerer Zeit für Muriel Spark (The Prime of Miss
Jean Brodie
), William McIlvanney, dem Erfinder des kalvinistischen
Krimis (Laidlaw), den Experimentatoren Alasdair Gray (Lanark)
und Robin Jenkins, dem kompromißlosen, aber nicht völlig
pessimistischen Romancier der Zerrissenheit, insbesondere in seinem wunderschönen
Fergus Lamont (neben einem seit 1950 auf über zwanzig Titel angewachsenen
Werk).

MacDiarmid, der 1978 verehrt, aber ungezähmt verstarb, brachte ein Werk
hervor, das tiefgreifend fruchtbar war, so wie das heutige Schottland überquillt
vor poetischem Saft. Es geht kein Jahr vorüber, ohne dass eine neue
Sammlung, eine neue Anthologie oder eine neue Zeitschrift erscheinen, die
der zeitgenössischen Lyrik gewidmet sind. Periodika wie Gairm
(in gälischer Sprache), Lines Review und Cencrastus sprechen
durchaus einen größeren Leserkreis an und neigen übrigens
auch nicht zur Nabelschau, wie ihre zahlreichen Artikel beweisen, die sich,
auf Werksauszüge gestützt, der albanischen, sardischen, finnischen
oder tschuwaschischen Lyrik annehmen. Die Nacheiferer des Vaters der Scottish
Renaissance
sind geteilt in Verfechter des Schottischen (Sidney Goodsir
Smith, Robert Garioch, Alexander Scott, Tom Scott, Duncan Glen, Hamish Henderson,
Alan Bold), des Gälischen (Sorley Maclean, George Campbell Hay, Iain
Crichton Smith, Derick Thomson, Catriona Nic Gumaraid), des Englischen (George
Bruce, Edwin Morgan, Maurice Lindsay, Norman McCaig, Kenneth White, George
Mackay Brown, Liz Lochhead, Janet Caird) und manchmal aller drei Sprachen.
Trotz aller Gegensätzlichkeiten schreien sie vereint laut und deutlich
ihre Zugehörigkeit zur schottischen Kutur heraus. Solange das so sein
wird, sind keine Umfrage und kein Volksentscheid notwendig, um auf die Frage
zu antworten, die schon MacDuff, den Sieger über Macbeth, quälte:
»Stands Scotland where it did?«
(»Ist Schottland das, was es war?«).