Arme Schotten oder reiche Briten
Arme Schotten oder reiche Briten?
»Ein Engländer ist ein Mann, der auf einer von Schotten regierten Nordseeinsel
wohnt«, bemerkte ironisch der Engländer Philip Guedella im vergangenen
Jahrhundert. Schottland ist keine Kolonie und wurde nicht von England erobert,
sondern unterzeichnete 1707 einen Vertrag über die Vereinigung seines
Parlaments mit demjenigen Englands: Schottland verlor auf diese Weise zwar
sein unabhängiges Parlament, weshalb seine Abgeordneten von da an in
Westminster tagen mußten, Seite an Seite mit Engländern und Walisern.
Aber die Schotten blieben autonom in den Bereichen Recht, Religion und Schulwesen.
Guedellas Scherz ist nicht ganz unbegründet: innerhalb zweier Jahrhunderte
lieferte Schottland dem Vereinigten Königreich sieben Premierminister.
Im Verhältnis zu seiner Bevölkerung von 5,1 Millionen, was 9% der
Gesamtbevölkerung Großbritanniens entspricht, ist es auch in Westminster,
wo seine zweiundsiebzig Deputierten (11% des Abgeordnetenhauses) nicht nur
als ordentliche Mitglieder an den Arbeiten der Vollversammlungen teilnehmen,
leicht überrepräsentiert. Sie sitzen nämlich auch in den Kommissionen
und sind damit beauftragt, ihr eigenes Land betreffende Gesetzentwürfe
und Gesetzesvorlagen zu untersuchen. Seit 1885 verfügt Schottland sogar
über eine eigene Verwaltung: ein vom Premierminister ernannter und vor
dem Parlament verantwortlicher Schottland-Minister leitet in Edinburgh das
Scottish Office mit fünf Abteilungen (Landwirtschaft und Fischfang;
Erziehung; Inneres und Gesundheit; Entwicklung; Industrie) und über zehntausend
Beamten.Dennoch fordert ungeachtet all dieser erreichten Vorteile (dieser »Privilegien«,
giften die Bewohner bestimmter benachteiligter Regionen Englands) eine Mehrheit
von Schotten, unzufrieden mit der »bestehenden verfassungsmäßigen
Ordnung«, eine weitergreifendere Autonomie; einer von fünf Schotten sogar
die Unabhängigkeit. Die 1934 aus dem Zusammenschluß mehrerer autonomistischer
Gruppierungen hervorgegangene Scottish National Party blieb lange Zeit
eine bunt zusammengewürfelte Sammlungsbewegung von Künstlern, Juristen
und Adeligen, mißtrauisch von einer Arbeiterklasse beäugt, die
stur zur Labourpartei hielt. Letztere, Verfechterin der schottischen Autonomie,
als sie noch in der Opposition saß, spielte sich in dem Moment zur unerschütterlichen
Verteidigerin der nationalen Einheit auf, da ihr Anführer, der Schotte
James Ramsay MacDonald, im Jahre 1924 zum Premierminister ernannt wurde sowie
später dann von 1929 bis 1931. Obwohl sie sich dem Faschismus entschieden
widersetzte, erklärte die SNP 1937, dass sie der Londoner Regierung
nicht das Recht zuerkenne, schottische Bürger per Wehrpflicht (conscription)
einzuziehen. Als der Krieg erklärt war, fand sich allerdings kein
einziger Nationalistenführer, der sich gegen die Mobilmachung ausgesprochen
hätte: im Gegensatz zu bestimmten kontinentalen Separatistenbewegungen,
kann die SNP auf keinen Fall der Sympathie für Hitlerdeutschland bezichtigt
werden. Ihr Vorsitzender R. McIntyre wurde anläßlich einer Nachwahl
im Jahre 1945 zum Abgeordneten von Motherwell gewählt, Sozialistenhochburg
unter den Glasgower Vororten. Er verlor seinen Sitz bei der folgenden allgemeinen
Wahl: die Persönlichkeitswahl in einem Wahlgang begünstigt die kleineren
Parteien nicht gerade.Jene Streiche, zu denen sich nationalistische Studenten in der Nachkriegszeit
hinreißen ließen (Diebstahl des Scone-Steins (), Plastikbombenanschlag
auf Briefkästen mit dem Wappen Elisabeths II. ()), leisteten der Glaubwürdigkeit
der SNP natürlich einen Bärendienst, die bei den allgemeinen Wahlen
1959 kaum ein Prozent der schottischen Stimmen erlangte. Die Presse konnte
sie weiterhin als folkloristische Randerscheinung gefühlsduseliger Erleuchteter
und antienglischer Revanchisten darstellen.Wie erklärt man sich dann aber den Überraschungssieg 1967 der forschen
Winnie Ewing anläßlich einer Nachwahl in der Labourhochburg Hamilton
bei Glasgow einem Arbeitervorort, der nichts von einer Zufluchtsstätte
für im Aussterben begriffene Kelten hat? Die Mehrheit der Kommentatoren
wollte in diesem Triumph nur eine Eintagsfliege sehen, zustande gekommen dank
der Protestwählerstimmen von Proletariern, die sowohl der Regierung
Wilson als auch der Arbeiterbewegung in den West-Lowlands, durch Machtverschleiß
zermürbt, eine Lektion erteilen wollte. Alles sollte, so die Politologen,
bei den nächsten Wahlen wieder ins Lot kommen. So mußte die SNP
dann auch tatsächlich 1970 Hamilton wieder an die Labourpartei zurückgeben.
Aber sie entriß ihr nach schwerem Kampf den Sitz der Äußeren
Hebriden. Man schätzte damals, dass sie mit 11,5% der schottischen
Wählerstimmen am Höhepunkt ihrer Popularität angekommen war.
Die nationalistische Propaganda führte vergeblich Norwegen und die Schweiz
ins Feld, reiche Länder trotz einer eher feindlichen Natur die Mehrheit
der Schotten blieb skeptisch: sie bezweifelten, dass ein unabhängiges
Schottland wirtschaftlich lebensfähig sei. Poor Scots or rich Britons
schien 1970 die Alternative zu sein.Arme Briten oder reiche Schotten?
Wunder sind die Belohnung für Völker, die an ihre Existenz glauben.
Die Franzosen haben kartesianische Vorstellungen, also: kein Erdöl. Den
Schotten dagegen gelang es, angelsächsischen Rationalismus mit keltischer
Sensibilität und dem Übernatürlichen zu verbinden. So ist es
auch nicht weiter verwunderlich, dass mitten in der Nordsee Erdöl
gefunden wurde, auf halbem Wege zwischen Schottland und Norwegen. Von da an
hatte die SNP leichtes Spiel, den Traum eines dank wunderbar sprudelender
Förderabgaben in eine wohlhabende Sozialdemokratie à la Skandinavien
verwandelten Schottlands in den verlockendsten Farben auszumalen. Einzige
Bedingung, damit das Wunder Wirklichkeit würde: sich des allzu gefräßigen
englischen Molochs zu entledigen. Eine um so leichter zu haltende Argumentationskette,
als die konservative Regierung unter Edward Heath den Erdölmultis erhebliche
Vorteile einräumte (Ergebnis: 22% der Stimmen und sieben nationalistische
Abgeordnete bei den Wahlen im Februar 1974) und die Folgeregierung Wilson
den Nationalisten jegliche Konzessionen verweigerte (Ergebnis: 30% der Stimmen
und elf gewählte SNP-Abgeordnete im Oktober 1974).In nicht ganz zehn Jahren hatte sich das belächelte Sektierergrüppchen
zur zweitgrößten Partei Schottlands gemausert bzw. sogar zur größten
bezüglich der Zahl ihrer Mitglieder, die sich aus den »Antriebskräften«
der Nation rekrutierten: Schüler, Studenten, junge leitende Angestellte,
Lehrer, Kleinunternehmer, Techniker und Facharbeiter. Die Partei hatte in
den neuen Städten solide Fuß gefaßt und schlug genauso rasch
in den ländlichen wie auch in den städtischen Wahlkreisen Wurzeln,
in den Lowlands ebenso wie in den Highlands, in den Arbeiterhochburgen im
Westen wie in den konservativen Bastionen im Nordosten: die SNP erschien zu
diesem Zeitpunkt wie der Prototyp der catch-all party, einer Art Sammelpartei
mit uneinheitlicher Linie. Denn worauf gründen tatsächlich die Gemeinsamkeiten
zwischen dem Konservatismus des parlamentarischen Führers, des Puritaners
Donald Stewart von den Hebriden, dem »fortschrittlichen Liberalismus« ihres
Vorsitzenden, des ergebenen Buchhalters William Wolfe, dem gemäßigten
Sozialismus der Anwältin Winnie Ewing, Abgeordnete im Europaparlament,
wo sie lange Zeit in der Fraktion der Europäischen Demokraten für
den Fortschritt (SdED) eingeschrieben war, und dem Populismus der zweiten
Vorsitzenden, der hitzigen Margo MacDonald? Gründen sie nicht, wie es
ein Slogan Margo MacDonald in den siebziger Jahren verkündete, auf "Put
Scotland first", dem Willen also, Schottland den Vorrang einzuräumen?
»Sloagan« stammt übrigens vom gälischen sluagh ghairm, »Schlachtruf«.Im Grunde genommen verwendete die Nationale Partei trotz einer bisweilen
avantgardistischen Rhetorik (Ökologie, Gewaltlosigkeit, Mitwirkung, Mitbestimmung)
einige Sorgfalt auf ihr gemäßigtes und verantwortungsbewußtes
Markenimage: bürgerliche, achtbare und kompetente Führungskräfte;
Verurteilung von Gewalt (Nichtanerkennung der winzigen Tartan Army,
1975 verantwortlich für einige lächerliche Sabotageake), Anglophobie
(»Es wird keine Minen an der Grenze geben«), Neutralismus (»Wir werden die
NATO nicht verlassen«) sowie von republikanischer Gesinnung. Die nats
(Nationalisten, bis zur Saumspitze ihrer Kilts Anhänger der verfassungsmäßigen
Regierungsform, fordern einen »unabhängigen Status inmitten einer Verbindung
gleichrangiger Partner, dem Commonwealth, mit der Königin an der Spitze«