Tradition
Kulturelles Verständnis
Traditionell eingestelltes Dorf Billiau
Tolerante und aufgeschlossene Einheimische
Verblüfft hat mich das Niugini-Verständnis von Kunst. Kunst, erkannte ich, war für die Niuginis nicht schöpferisches Schaffen oder Neues kreieren, Kunst bedeutete: alles exakt nach dem Vorbild der Ahnen herzustellen, und zwar bis ins kleinste Detail.
Die Frauen lebten, soweit erkennbar, ein höchst restriktives Leben unter der strengen Fuchtel der Dorfältesten. Für individuelle Entfaltungsmöglichkeiten schien kein Raum vorgesehen. Aber vielleicht hatten einige Frauen bereits in sich eine geheime Kammer geöffnet, in der sie Sehnsucht nach Individualität spürten? Ich meinte, zu erkennen, dass die einst übergestülpte weiße Kultur die Frauen den Alltag, die vorgegebenen Regeln nicht mehr unhinterfragt hinnehmen ließ. Etwas war da geschehen, das bei wachen, intelligenten Frauen eine gewisse Rebellion hervorgerufen hatte. Die Dorfältesten jedenfalls hatten nicht mehr das gewohnt übliche, leichte Sagen bei den Frauen. Spürbar war für mich schon damals eine unbestimmte Sehnsucht nach Veränderung, nach anderer Lebensgestaltung. Auch einen gewissen Drang nach einem Ausbrechen aus dem gewohnten Rollenverhalten meinte ich zu erkennen.
Ich bezweifle nicht, dass die bewertende Kultur, die von den Weißen, seien es Missionare oder die vielen nachfolgenden Geschäftsleute, in dieses Land getragen wurde, verändernd auf die Wertvorstellungen der Menschen in Niugini gewirkt haben muss. Es fällt mir aber schwer, zu erkennen, dass hier Menschen betroffen sein sollen, die bis zu diesem Zeitpunkt in einer geradezu paradiesischen Steinzeitkultur gelebt hätten. Noch in Büchern aus den 1980er Jahren, von männlichen Ethnologen verfasst, wird das Leben der Einheimischen vor dem Eintreffen der Weißen als authentisches Dasein beschrieben, das zu erhalten erstrebenswert sei. Geschildert wird hauptsächlich das kultische Leben der Männer. Auch Frauen kommen vor, insbesondere solche, die sich rituell bei Todesfällen in der Familie ein Fingerglied nach dem anderen abhacken. Immer wieder frage ich mich, ob diese Frauen wohl glücklicher waren als die in Biliau zu der Zeit, als ich sie erlebte. Wie hätten diese Frauen Worte finden sollen, um den Widerstreit ihrer Gefühle auszudrücken, den die Begegnung mit der anderen, weißen Kultur ausgelöst hatte? Mit Sicherheit hat die Begegnung mit der weißen Kultur bei den Niuginis Spuren hinterlassen; nur regt sich in mir ein gewisser Widerspruch, diese pauschal als schädlich zu bewerten.
Jahre später, als ich in der Asylberatung tätig war, begann ich zögernd, Erfahrungen aus der Niuginizeit mit Eindrücken aus meiner derzeitigen Arbeit zu vergleichen. Wieder arbeitete ich mit Menschen, die tief in ihrer Tradition verwurzelt waren. Aber dennoch hatten sie sich auf den Weg gemacht und ihr Land, ihren Kulturkreis verlassen. Aus höchst unterschiedlichen Gründen, sei es Anarchie, ein totalitäres Regime, Krieg oder auch schlicht Armut in ihrem Land, waren sie nach Deutschland gekommen. Ist es nicht immer so gewesen, dass Traditionen gepflegt werden, sich aber genau wie Sprachen in ständiger Veränderung befinden?
In Niugini waren wir, weil wir uns auf den Weg gemacht hatten. Die Niuginis hatten uns gewiss nicht gerufen, so wie sie keinen Weißen in ihr Land gerufen haben. Aber nun waren wir hier und die Zeit konnte nicht zurückgedreht, die Einflüsse der weißen Kultur nicht rückgängig gemacht werden. Mir stellte sich die Frage, ob die Weißen in dieser uralten Kultur von Niugini vielleicht nicht nur zerstörerisch gewirkt, sondern auch andere, vorher unbegangene Wege eröffnet hatten. Sicher, es waren Fehler von den ersten Missionaren begangen worden, konnten sie doch nicht wissen, dass so einige Bekehrte durchaus nicht unberechnend gehandelt hatten, wie sich erst viel später durch die im Lande entstehenden Cargokulte (Anmerkung, s.S. xxx) zeigen würde. Die Missionare waren aber in dem ehrlichen Interesse gekommen, dem Land nicht nur ihren Glauben, sondern auch Fortschritt zu bringen. Die nachfolgenden Geschäftsleute und insbesondere die Pflanzer, verfolgten dieses Interesse mit Sicherheit nicht in gleichem Maße, denn für sie stand eher der eigene Gewinn im Vordergrund.
Ich habe mich in dieser Zeit in Biliau so leicht gefühlt. Unser Leben nahm Gestalt an, Alltagsleben entstand, jeden Tag begrüßte ich mit Freude. Ich hatte zwei Hausmädchen gefunden, die gern für einen Missionshaushalt arbeiten wollten. Wir hatten einander beschnuppert und waren uns sympathisch. Von den Dorfleuten konnte ich frischgefangenen, köstlichen Fisch sowie Hummer und Krabben in Mengen kaufen. Nie wieder haben wir uns an Meeresfrüchten so satt gegessen wie in Biliau. Amos war dabei, im Dorf und bei den Hausmädchen zum kleinen King zu werden. Manchmal stellte sich der kleine Kerl mitten auf den Dorfplatz und rief kaikai, Essen! Die Dorffrauen überschlugen sich, welche als erste seine Bedürfnisse stillen durfte. Amos bezauberte alle mit seinem Geplapper in Tok Pisin, lernte nebenbei Tok Biliau und spielte mit seiner schwarzen Freundin Nunni vom Nachbarhaus. Manchmal musste ich beim Anblick der beiden spielenden Windelkinder einen Kloß der Rührung schlucken. Es gibt einen Film, den Michael und meine Tochter Janna zu Amos Hochzeit auf Video überspielten. Er zeigt unter anderem ein schwarzes und ein weißes Windelkind, die mit einem Ball spielend in dicken Windelpaketen herumwatscheln ein köstlicher Anblick.
Nunni war die jüngste Tochter des Stationsmanagers Karkar. Der war so etwas wie der Hausmeister der Station und bewohnte das Haus gleich neben uns. Ob er wirklich Karkar hieß oder nur so genannt wurde, weiß ich nicht. Er stammte von Karkar Island, einer Insel, die von Biliau aus zu sehen war. Er wurde mit den Dorfleuten von Biliau, glaube ich, weniger warm als die jeweiligen Missionare. Das Stammesdenken schien hier noch immer eine entscheidende Bedeutung zu haben. Karkar und die Dorfleute begegneten einander außerordentlich distanziert. Ähnliches habe ich später noch oft bemerkt. In Niugini wurden Menschen, die ihre Sippe, ihren Stamm oder ihren Sprachkreis verlassen hatten, nie mehr wirklich heimisch. Sie lebten ein isoliertes Familienleben, vergleichbar mit dem einer deutschen Kleinfamilie.