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Urlaub bei Gleichgesinnten

Austausch von Neuigkeiten unter ständiger Kontrolle

Vorstellung eines aufregenden Erlebnisses, entgegen der Routine

Ein paar Wochen später flogen wir in Urlaub zu Freunden, mit denen wir zusammen von Frankfurt über Adelaide nach Lae geflogen waren. Bisher hatten wir nur über Funk miteinander gesprochen, sehr wohl wissend, dass alle Missionsstationen mithören konnten, und entsprechend vorsichtig hatten wir unsere Neuigkeiten ausgetauscht. Sie waren zur Orientierungszeit, die wir in Biliau verbracht hatten, nach Mainyanda geschickt worden, einer Außenstation im Lae-District. Nun lebten sie im gleichen District auf der höher gelegenen Station Aseki, ebenfalls irgendwo im Niemandsland im Busch von Niugini.


Wie für uns in Begesin war Besuch ein ganz besonderes Ereignis für sie. Marina und Gunnar begrüßten uns begeistert, und die Woche in Aseki mit den beiden und ihrer kleinen Tochter Eva, wurde zu einem unvergesslichen Ereignis. Wir hatten uns damals in Lae getrennt, danach waren auf jeden von uns viele Eindrücke in diesem fremden, exotischen Land eingestürmt – in der ersten Nacht, die wir nun zusammen verbrachten, war an Schlaf nicht zu denken. Jeder von uns musste den anderen seine Erlebnisse und gewonnenen Erkenntnisse mitteilen, wie hungrige Wölfe stürzten wir uns in die Gespräche. Dieses überstarke Mitteilungsbedürfnis war ein Charakteristikum für uns Außenstationsleute. Zu lange Zeit hatten wir im eigenen Saft geschmort, hatten nur unseren jeweiligen Partner zum Austausch unserer Gedanken gehabt. Die Erfahrungen in diesem fremden Land taten ja etwas mit uns, bewegten etwas in uns – irgendwann blieben aber einfach die Worte aus, mit denen einem Partner Erlebtes, Gefühltes, mitgeteilt werden konnte. Sicher, wir alle waren ehrlich bemüht, mit den Einheimischen Nähe zu leben, uns in ihre Gedankenwelt hineinzudenken, aber unser Eigenleben schrumpfte dabei auf ein Minimum. Und die Fähigkeit, sich mitzuteilen, wurde auf eben dieses reduziert. Das Leben auf einer Außenstation beinhaltete wie in einem ungeschriebenen Gesetz, von eigenen Bedürfnissen Abstand zu nehmen, sich den äußeren Gegebenheiten zu unterwerfen, – aber irgendwann mussten wir erkennen, dass wir verlernt hatten, unsere Empfindungen sowohl wahrzunehmen, als auch noch sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Nie wieder habe ich Menschen erlebt, die ein solch ungeheueres Nachholbedürfnis an Mitteilung hatten. Es war, als würden wir Sprache neu erfinden. Aus jedem von uns sprudelten die Erlebnisse heraus, wurden in Worte gefasst; endlich konnten wir Gefühltes, Erfahrenes, mit anderen teilen, wir konnten uns mit-teilen. Wir waren so offen für einander, dass wir bei der Schilderung eines nahe gehenden Ereignisses Tränen der Anteilnahme vergossen. Die Beschreibungen flossen aus jedem von uns heraus, wir waren zusammen im Fluss des satten, erzählenden Lebens angelangt.

Die Tage verbrachten wir wie im Traum miteinander. Gunnar zeigte uns die berühmten smoke bodies, die Räucherkörper, von Aseki. Das waren Tote, die in einem besonderen Verfahren durch Räuchern haltbar gemacht wurden. Die in Höhlen kauernden Leichname bestarrten wir gruselnd, ihre trocken geräucherte Haut war seltsam faltig über die dürren Skelette gezogen, die Gesichter in ewigem Grinsen erstarrt. Viel kann ich nicht von den äußeren Eindrücken erinnern. Wir sahen uns die Umgebung von Aseki an, besuchten zusammen den Markt, wanderten mit unseren Kindern in der Umgebung.


Aber wie magisch angezogen warteten wir jeden Tag auf den Abend, an dem wir, nach dem Zubettbringen unserer Kinder, weiterführen konnten, was wir am ersten Abend begonnen hatten. Jeder durfte erneut seine Erzählfäden spinnen; gemeinsam erfanden wir wieder die Kunst des lebendigen Erzählens. An einem Nachmittag stand ich mit Marina beim Kaffeekochen in der Küche, als sie sehnsuchtsvoll meinte: „Geht es dir auch so? Ich wünsche mir immer wieder beim Kaffeekochen eine Freundin herbei, die eben mal klingelt und sagt, hast du vielleicht eine Tasse Kaffee?“ Oh ja, dieses Gefühl kannte ich, sogar mehr, als es mir lieb war. Nur, erinnerten wir uns belustigt, wir hatten doch gar keine Klingel, unsere Besucher machten sich durch Husten bemerkbar. Ich schilderte ihr, wie ich manchmal in Begesin träumte, es würde irgendetwas geschehen, das die Routine durchbrach, das es interessanter machte, in dieser abgeschiedenen Situation zu leben. „Aber dann passiert wieder nichts“, sagte sie, vor sich hin sinnend. „Du bringst Dein Kind zu Bett, und bist immer noch die einsame Missionarsfrau mit einer gewissen Tendenz zur Depression, die das Leben auf einer Außenstation meistert.“ „Ja“, setzte ich nach, „und hinzu kommt dieser merkwürdige Hang der Männer, sich vor ebendieser Tendenz in ihre Männerwelt zu verdrücken.“ Wir tauschten einen Blick tiefen Verstehens. Wie Michael und ich nach dieser belebenden Woche den Abschied in Aseki geschafft haben, ist mir noch heute ein Rätsel. Als es Zeit war, sich zu verabschieden, war uns klar bewusst, was wir zurückließen. Der Rückflug nach Begesin schien mir wie eine Reise in die Einsamkeit.