Orientierung

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Unterschiedliche Ansichten

Traumhafte Ausblicke auf Berge und Schluchten

Orientierungszeit in Biliau am Pazifik

Durch nichts war ich vorbereitet auf diese unglaubliche Schönheit. Um mich herum war Geschäftigkeit, Geschrei, Hektik – in mir war Stille. Fasziniert sah ich über dem Meer die Sonne aufgehen wie einen riesigen Feuerball – wie konnte etwas so wunderschön sein?


Unsere Überseetonnen wurden auf kleine Motorboote verladen, die Simbang ankerte vor der Küste von Biliau. In einiger Entfernung sah ich auf dem im Sonnenlicht glitzernden Sandstrand hochgewachsene schwarze Menschen, dahinter Palmen, Palmen, Palmen. Ich ließ meinen Blick schweifen über diese traumhafte Szenerie, ließ ihn den Hügel hinauf gleiten. Da oben sah ich ein Haus mit funkelndem Wellblechdach – das würde unser Haus werden, dessen war ich gewiss.


Irgendwann war es so weit. Michael half mir mit Amos auf dem Arm in eines der Boote, das zum Sandstrand tuckerte. Beim Aussteigen fühlten meine Zehen zunächst nassen, beim Weitergehen trockenen Sand. Ich näherte mich einer Gruppe von schwarzen Menschen, nahm offene, interessierte, freundliche Blicke wahr. Ich durchschritt diese Blicke wie im Traum, ging durch ein Dorf – Buschhäuser auf Holzstelzen, gelbe Hunde, Hühner und Schweine dazwischen – steuerte auf einen Trampelpfad im Kunaigras zu, dem ich hügelan folgte, immer weiter. Nun war ich angekommen. Tiefes Durchatmen – ich war zu Hause.


Noch heute kann ich kaum nachvollziehen, wie beseligt ich mich bei der Ankunft in Biliau gefühlt habe. Ich fühlte mich zutiefst wie zu Hause angekommen. Sicherlich, ich musste erst meine praktischen Fähigkeiten anwenden, die Überseetonnen mussten ausgepackt und so das Haus mit Leben gefüllt werden. Das alles wusste ich. Aber ich sah mich schon auf dem Dorfplatz sitzen und die Sprache Tok Pisin aufsaugen.


Das Missionshaus war ein auf hohen Betonpfosten errichtetes Holzhaus mit vielen Fliegengitterfenstern, durch die aufgrund der Hügellage fast stets eine Brise wehte. Vom Küchenfenster konnte man den Hügel hinunterblicken auf das blaue Meer und den weißen, von Kokospalmen gesäumten Sandstrand – ein Anblick, der mir wie die Erfüllung meines Südseetraums erschien. Besonders traumhaft waren die Sonnenaufgänge über dem Meer. Wenn alle zwei Wochen die Simbang mit Fracht und Postsack anlegte, ließ ich mir den Sonnenaufgang nicht entgehen, und erinnerte mich beglückt an unsere Ankunft am weißen Strand.

Später einmal fragte ich meine Freundin Gananui: „Wie hast du dich gefühlt, als ich am Strand an dir vorübergegangen bin?“ Ihre spontane Antwort: „Du wirst meine Freundin, das wusste ich sofort!“


Das Leben in Biliau war „mein“ Leben. Nachmittags spazierte ich mit Amos auf der Hüfte den Hügel durch das Kunaigras hinunter ins Dorf, saß mit den Frauen auf dem Dorfplatz und lernte durch die Gespräche mit ihnen rasch Tok Pisin. Meine Entscheidung für diese Sprache war schnell getroffen. Die Frauen versuchten immer wieder, mir statt Tok Pisin die Biliausprache beizubringen. Eigentlich sollten wir auch Graged, die Sprache der Madangleute lernen, so wollte es die Mission. Graged sprachen auch die Biliauleute und die Liturgie im Gottesdienst wurde auch in Biliau in Graged gepflegt. Aber was sollte ich mit Tok Biliau? Hier hielt ich mich nur zur Orientierungszeit auf. So setzte ich energisch dem Spiel ein Ende und lernte fortan in Windeseile Tok Pisin.


Die Biliaufrauen und ich, wir hatten viel Spaß miteinander. Die Mehrfachbedeutung vieler Begriffe konnte so herrlich zu zweideutigen Blödeleien genutzt werden. In „Radio Madang“ wurde zu dieser Zeit immer wieder ein Lied gespielt, das ich noch heute im Ohr habe: „Eeh, schau dir den an, der hat keine Scham!“ Das Wort sem stand aber nicht nur für Scham, es stand auch für Deckel. Als ich einmal mit den Dorffrauen beim allgegenwärtigen Teetrinken zusammen saß, sang eine der Frauen einer Teekanne mit zerbrochenem Deckel zu: „Eeh, du hast keine Scham!“


Immer öfter saßen Gananui und ich nach solchen Treffen allein zusammen. Ich trage diese Gespräche noch wie ein Bild in mir. Zwei junge Frauen, eine schwarz, eine weiß, am Strand auf einem gefällten Baumstamm sitzend – im Hintergrund die über dem Meer aufgehende Sonne – in ein vertrautes Gespräch vertieft. Es gibt eine Fotografie davon, die ich mir immer wieder gerne träumend ansehe. Das Jungsein, das selbstverständliche, nicht hinterfragende Sein – wir beide lebten es, ohne uns dessen bewusst zu werden.