Übernahme

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Neue Lebensabschnitte

Komische Vorstellung des Krankseins

In weiße Haut spritzen – geht das?

Die zwei Wochen in Yagaum waren die anstrengendsten Wochen meines bisherigen Lebens. Ich folgte Fiona auf Schritt und Tritt, saugte jedes ihrer Worte auf, machte mir abends Notizen, lernte und lernte. Bei einigen Entbindungen sah ich zu, tat nicht einen Handstreich – aber eine Ahnung entstand dafür, wie glücklich ich einmal sein würde, junges, neugeborenes Leben in meinen Händen zu spüren. In Yagaum sah ich zum ersten Mal, wie Einheimische in einem Krankenhaus lebten. Das hatte ich bisher nur in Büchern über Afrika, etwa über Albert Schweitzer, gelesen. Fiona war eine ebenso gute Beobachterin, wie Erzählerin. „Wenn ein Einheimischer krank wird, ist das für ihn nicht einfach eine Krankheit, die auch noch einen Namen hat. Er, die ganze Person ist krank. Irgendetwas ist mit ihm geschehen von außen oder jemand hat ihn verzaubert – der ganze Mensch ist krank“, erklärte sie mir. „Das hat nichts für ihn mit einem betroffenen Organ zu tun und darauf dürfen wir auch gar nicht versuchen, es zu reduzieren. Wir müssen ihn in seinem Kranksein ernstnehmen und versuchen – neben all den medizinischen Untersuchungen – herauszufinden, wann er begonnen hat, sich krank zu fühlen.“


Die Krankenzimmer in Yagaum sahen in etwa so aus, wie ich sie mir nach Büchern über Lambarene vorgestellt hatte. Die Angehörigen waren um die Kranken herum, die Ärzte nahmen sie als Gesprächspartner ernst. Mit ihnen wurden die Maßnahmen zur Gesundung der Patienten abgesprochen. Eine Krankenhausküche gab es selbstverständlich nicht. Die Familie oder die Sippe besorgte die Mahlzeiten für die Patienten. Den Angehörigen war die Möglichkeit eingeräumt worden, gleich vor den Krankenbaracken eine Feuerstelle zu errichten, wo die Frauen in Grüppchen davorhockten und ihr traditionelles Essen zubereiteten, was laut Fiona wesentlich zur Genesung der Kranken beitrug.


Wieder zu Hause in Begesin erzählte und erzählte ich, und verarbeitete dabei viele der neuen Eindrücke. Danach richteten wir das Zimmer am Ende des Hauses als dispensary, als Krankenstation, ein, womit ein neuer Lebensabschnitt beginnen konnte.

Am intensivsten habe ich meine erste Entbindung in Erinnerung. Ich wurde an einem Vormittag zum Dorf Konogul gerufen, gleich hinter dem Fluss Ujapan und neben dem Flugplatz gelegen. Eine Frau lag dort in den Wehen, long taim liklik, lange Zeit ein bisschen, bei der es nicht vorangehen wollte. Aufgeregt nahm ich meine bereitstehende Tasche und marschierte los. Unterwegs versuchte ich zu rekapitulieren, was ich bei Fiona gesehen und gelernt hatte und meinte, dabei ihre Worte zu hören. Bei meiner Ankunft traf ich eine Stimmung an, die ich noch oft erleben würde. Vor dem Haus hockten schweigend ein paar Männer zusammen, offensichtlich ratlos den Geräuschen lauschend, die aus dem Haus drangen. Im Haus saß eine Gruppe von Frauen um die Kreißende herum. Es wurde Tee gereicht und miteinander geredet. Hatte die betroffene Frau eine Wehe, strich ihr eine der anderen über den Rücken. Heute war sie an der Reihe, irgendwann würde es wieder eine von ihnen sein. Und doch hatten sie erkannt, dass heute etwas anders war. Als ich eintrat, erklärten sie mir, dass die Frau schon seit gestern Abend in den Wehen lag. Eigentlich hätte das Kind längst da sein müssen, es war ja nicht ihr erstes, aber heute hätten sie beschlossen, nach mir zu rufen, weil etwas nicht in Ordnung sei. Entschlossen stellte ich meine Tasche ab und versuchte, wie von Fiona gelernt, die Lage des Ungeborenen zu ertasten. Ich war mir sicher, ganz eindeutig fühlte ich es: das Kind lag quer. Eine erneute Wehe erfasste die Frau, ihr Leib wurde hart, und ich wartete ab, während die anderen Frauen wieder über ihren Rücken strichen, sie anfassten und streichelten. Dann versuchte ich erneut die erlernten Handgriffe, und wieder war ich mir sicher: das ist eine eindeutige Querlage. Auf meiner Stirn stand Angstschweiß. In diesem ratlosen Moment – so erinnere ich mich – habe ich zum ersten Mal die Richtigkeit meines Entschlusses, die Krankenversorgung zu übernehmen, angezweifelt. Es sollte nicht das letzte Mal sein.


Wir saßen neben der armen Frau, die von einer Wehe nach der anderen erfasst wurde und immer gequälter ihren Schmerz herausschrie. Nach einer Weile hielt ich es nicht mehr aus. Ich schrieb Michael eine Nachricht, in der ich ihn bat, über Funk ein emergency balus, ein Notfallflugzeug, zu rufen, und gab sie einem der draußen sitzenden Männer, der damit zur Station eilte. Die Frau wurde noch ungefähr eine Stunde von Wehen geschüttelt, bis wir weit aus der Ferne das herannahende Flugzeug hörten. Nun überschlugen sich die Ereignisse. Gerade hatte ich die Männer gebeten, die Frau schleunigst hinüber zum Flugplatz zu tragen, als sie von einer Wehe erfasst wurde und laut schrie. Die Männer ließen sie erschrocken zu Boden sinken, ihr Tuch glitt zu Boden und ich sah eine Bewegung über ihren Leib gleiten. Das Geräusch des herannahenden Flugzeugs war lauter zu vernehmen und schon kam wieder eine Wehe. Es geschah etwas, das ich immer wieder wie ein Wunder erleben sollte. Die Männer wurden ohne viel Federlesens von den Frauen hinausgescheucht. Eine der Frauen stützte die Gebärende von hinten und hob sie in die Hocke. Dann ging alles ungemein fix: ich sah zuerst etwas Dunkles rund aus der Vagina hervorquellen, eine erneute Wehe, und diese Mal kam ein Köpfchen zum Vorschein mit dem Gesicht nach unten. Es drehte sich zur Seite, die Schultern kamen aufrecht nach, ein letztes stöhnendes Pressen – und das ganze Neugeborene glitt in meine Hände. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfüllte mich, erfüllte mein ganzes Sein. Leben, das war neugeborenes Leben!