Stadtfest
Feiern in Quito
Total angepisst
Am 6. Dezember 1822 erkämpften Jose de Sucre (nach ihm benannt die alte ecuadorianische Währung) und Simon Bolivar (Si, si, Bolivien trägt seinen Namen) gegen die spanischen Kolonialherren den ersten Befreiungssieg in Südamerika, die erste befreite Stadt war Quito. Seitdem ist der 6. Dezember der wichtigste Feiertag der Stadt, und da man hier die Feste noch feiert wie sie fallen, ist vom Abend des 30. November bis zum Morgen des 7. Dezember Ausnahmezustand, Feierzustand und allerlei Spektakel geboten.
Mittelalter-Historiker erinnert das fast an wenig an die Zeiten vor gut 700 Jahren, als es in Deutschland geschätzte 180 !! Feiertage pro Jahr gab, als dieses Land von Menschen bewohnt war, die die Natur, ihre Rhythmen und sich selbst als Teil dessen hochleben ließen.
Zur Eröffnungsfeier am Abend des letzten Novembertages trafen sich mehrere Tausende auf dem ehemaligen Handelsplatz, dem Plaza San Fancisco, und verfolgten ein medial ins ganze Land ausgestrahltes Großereignis, auf großer Bühne, mit Indigena-Tänzen, betörendem Quechua-Gesang (die wichtigste verbliebene Indio-Sprache des Landes), Darbietungen und Attraktionen, Feuerwerk und Lichtshow.
Wir hatten einen guten Platz weit hinten in der Menge ersteigert, der Himmel spendete, wie so oft, Wolken geschwängert mit Nieselregen, hunderte Kleinstverkäufer boten in ihren Bauchläden Zigaretten, Caramellitos und Bananenchips feil. Besonders regen Absatz hatten die Tetra-Pack-Weinverkäufer, die für einen Dollar pro Liter die Menge in aufgeheizte Stimmung brachten.
Der Typ mit dem Lakers-Shirt, den seltsamen Nähstichen über dem linken Auge und dem völlig weggetretenen Gesichtsausdruck war schon von Anfang an muy besoffen und geisterte durchs Volk. Irgendwann bemerkte ich ihn hinter uns und hatte von Anfang an kein gutes Gefühl. Nachdem ich mich einst in der Kunst des Rückwärts-Wahrnehmens geübt hatte, hätte ich eigentlich vorsichtiger sein müssen. Ich spürte alsbald eine unangenehme Kraft, die hinter uns zu Werke war. Anstatt mich jedoch umzudrehen, warnte mich letztlich erst die taktile Wahrnehmung an meiner linken Wade, die mich zur blitzschnellen Umdrehung animierte. Da war es bereits zu spät. Der Delinquent urinierte mitten in der Menschenmenge auf unsere Rückseiten und bescherte uns einen ecuadorianischen Regen der besonderen Art.
Von mir aufgeschreckt konnten meine beiden Begleiterinnen zur Linken dem gelben Nass entgehen, unser Freund Carlos beförderte den Täter mit einem Schubser nach Hause, mir blieb als Trost die ewige Gewissheit, ein Sterblicher zu sein.
In guter Tradition befand ich mich zwischen Siegfrieds Schulter und Achilles Ferse, meine linke Wade war gebrandmarkt und für den Rest der Nacht unangenehm feucht und omnipräsent. Hätte Kriemhild Hagen mein Geheimnis verraten, es wäre um mich geschehen gewesen.
So blieb die Gewissheit, unfreiwillig mit den Einheimischen Flüssigkeiten, zumindest eingleisig, ausgetauscht zu haben, und die wichtige Erinnerung sterblich zu sein.
Genug Kraft also, um die Schätze des Lebens vollends auszukosten.
Ska-Fest-Irrsinn - Jugendliche auf dem Kriegspfad
Zum hiesigen Stadtfest gibts allerlei Leckereien (siehe Siegfried) und Attraktionen umsonst. Zum Beispiel das riesengroße dreitägige Musikfestival de la Indepenzia im großen stadteigenen Park mit Bands aus Amerika und Europa, Licht und fettem Sound inklusive.
Die Besucher dieses Ereignisses unterschieden sich von denen in Deutschland nicht wesentlich. Junge, hippe, gepiercte, tätowierte, Schlabberhosen und Kapuzenpullis tragende, auf Punk, Metal und Freedom machende Adoleszente.
T-Shirt-Check: 20 Mal Ramones und Bob Marley, Black Sabbath, immerhin einmal AC / DC.
Schuhe-Check: Hälfte Cons, dazu Sneakers, Adidas, Puma, also Skaterlook, mit Armbändchen, Halsketten, Reggae-Mützen, alles wie gehabt; hätte auch in Schweden oder Slowenien sein können, mal abgesehen von den sich auftürmenden Wolkenformationen, die zusammen mit der Sonne bizarre Naturschönheiten erzeugten: Himmelblau-Fetzen, Grau-Kumulus-Schichten, Weiß-Schichten, Rosa, Rot, Grün beim Sonnenabgang, also alles, was du an Farben und Formationen in diesem Erosionstal finden willst - nicht zu beschreiben ...
Eine kleine Besonderheit des Verhaltens ist aber notierenswert: Zu herrlich, rockendem südamerikanischem Ska hätten europäische Fest-Freaks wahrscheinlich ausgelassen gepoged, hier bildete sich ein Strudel wirbelnder Kids, einem Thermal-Bad-Kreisel nicht unähnlich. Szenerie: Bühne mit Abgehband, davor händeklatschendes Volk. In dessen Mitte bildete sich um einen circa zehnköpfigen Mob ein bewegliches Rondell, das, sobald die härteren Töne einsetzten, wie wild mit scheppernden Auf-Ab-Bewegungen der Arme durch diese Kreis-Gasse rannte, hüpfte, fetzte. Ein absonderliches, herrliches Spektakel. Völlig durchgeknallte Jugendliche laufen wie Indianer auf dem Kriegspfad um einen kleinen Haufen verstört dreinblickender Gleichgesinnter.
Das Seltsame: Diese Insel an Menschen, ohne die diese Kreisgasse ja gar nicht existiert hätte, schauten sich das Spektakel um sie herum mit einer Mischung aus Scheu und Angst an und blieben nach Ende des Liedes und nachdem sich der Kreiskampf gelegt hatte, trotzdem stehen, so dass sie für die nächsten Songs die gleiche Option boten. Anstatt diesem Irrsinn, als solchen nahmen sie ihn zumindest Kraft ihrer Mimik wahr, zu entgehen und einfach den Ort zu wechseln, blieben sie treudoof stehen; schon wenige Augenblicke später rollte die Karawane des Wahnsinns wieder um sie herum.
Wir vermuteten: Eine Art ecuadorianischer Mutprobe, ein Initiations-Ritus: Stell dich in die Mitte des Trash-Ska-Ekstase-Kriegspfades für mindestens eine Stunde (oder eine Band), und du bist drin!
Im Geschäft.
Schwindelerregende Dreiakkorde sendet ...