Brüche
Kulturschock in Calama, Chile
Anders anders
Die Wüstengrenze zwischen Bolivien und Peru ist mehr als eine Ländergrenze, mehr als ein Passstempel und eine neue Währung.
Den 6000er-Vulkangletscher malerisch im Rücken, fahren wir von 5000 auf 2500 Meter herunter, nach San Pedro de Atacama, wo wir uns auf chilenischer Seite immigrieren müssen. Das erste Mal seit vielen Jahren, seit vielen Ländern, wird alles aufgemacht, was nicht innerorganisch ist. Rücksäcke, Koffer, Handtaschen - Komplettdurchsuchung, aber nicht gestapogarstig, sondern einfach ordentlich und kontrolliert, Chile will kein Obst, keine Wurst aus fremdem Land, und schon gar keine Coca-Blatter, hau dir nen Stempel in den Pass und weiter. Sofort den Anschlussbus nach Calama nehmen, damit wir nicht im Wüstendorf sitzen bleiben.
Nach eineinhalb Stunden Busfahrt und weiteren 2500 Fallmetern (jetzt also wieder auf Meereshöhe) treffen wir auf zwei chilenische Reisende, die wie wir weiter in den Süden wollen; man trottet gemeinsam zur Busgesellschaft, die dafür verantwortlich sein wird, unterhält sich, tauscht sich aus. Nebenbei bemerkt man, dass in Chile alles ein bisschen aussieht wie in den USA, genauer gesagt wie in New Mexiko oder Arizona wegen dem Klima und den Palmen - große, breite Straßen mit großen breiten, modernen Autos, Sauberkeit, fein abgegrenzte Hausparzellen, Einkaufszentren, schick gepflanzte Straßenbäumchen. Irgendwie ist es uns noch nicht ganz bewusst, die Gewitterwolken sind zwar schon deutlich zu sehen, aber wir fragen noch mal ein bisschen bei den beiden jungen Einheimischen nach: In Chile ist alles teurer und schicker als in Bolivien, oder? Ja. Wo gibt es denn hier Leute mit Trachten, ursprünglicher Indio-Kluft? Gibt´s hier nicht mehr, alles westernized. Und Indigenas, Indianer? Nein, auch nicht, Chile ist weiß. Und die Busse fahren pünktlich, man kann nicht irgendwo handeln, wenn das so und so viel kostet, dann muss man das auch bezahlen.
In Südamerika nennt man die Chilenen auch die Preußen, wegen ihrer Ordnungsliebe, ihren starkem deutschen Einfluss, ihrer europäischen Ausrichtung. Konnten wir überall hören, hat uns jeder, der von Süden nach Bolivien oder Peru kam, erzählt. In Chile und Argentinien ist´s anders, europäischer.
Na klar haben wir gedacht, sind wir mal gespannt, aber ist ja immerhin noch Südamerika.
Ist es nicht! Ist eine andere Welt, da haben schon die ersten zehn Stunden Warten auf den Nachtbus in Calama gereicht, um das zu erkennen, um ein paar sentimentale Tränen zu vergießen.
Grenzen verbergen immer Neues, eine andere Ausrichtung, kulturell, auch naturell und zwischenmenschlich, trotzdem erkennt man Gemeinsamkeiten, wenn man in Halberstadt oder Arnheim die Schnittpunkte kreuzt. Große Gemeinsamkeiten sogar. Ich kenne keine Grenze, die so weh tut, die so bricht, die alles auseinander reißt wie die zwischen Bolivien und Chile. Auch nicht, auch wenn es vielleicht nahe herankommt, der Rio Bravo zwischen den USA und Mexiko, und schon gar nicht deutsch-polnische Brücken, griechisch-türkische oder weiß der heilige Geier wo. Vielleicht gibt´s sie ja, vielleicht gibt´s diesen extremen Bruch zwischen dir und deinem Bruder, zwischen den streitenden Nachbarn in Mainz-Brettenheim, vielleicht auch zwischen Hund und Katz, nur hab ich´s bisher noch nicht so wahrgenommen, als würden alle Schleier von mir fallen oder besser auf mich fallen.
Wo seid ihr hin, bunt betuchte Indiofrauen? Wie ihr da unter eurem Rock sitzt, schwer voll Kilos und trotzdem gemütlich, und ein paar Maiskolben vor euch Liegen habt. Wer hockt sich jetzt noch hinters Stechgras und lässt einfach laufen, mit wem kann ich jetzt noch handeln? Hier gibt´s nur riesige Malls, die man in Deutschland nicht haben will, aber sonst überall auf der Welt Einzug halten. Keinen Bananenstand am Rand der Straße, schreiende Händler, die Hühnerköpfe oder Feigen feilbieten, kein Leben zwischen Einkauf und Verkauf, reine Wirtschaft in seiner ursprünglichsten Form. Sterile Krämer bestimmen das Bild, milleniumisiert, kapitalisiert.
Wo seid ihr hin, Schwarzaugen, wo bist du hin, Unendlichkeit? Wo seid ihr, all ihr Bettler, ihr windgebrannten Pausbacken, ihr Kinder, die ihr den ganzen Tag arbeitet und nichts anderes kennt als Familie, Religion und den Kampf ums Überleben? Naive Armut, kaputte Klos, widerliche verwanzte Betten, wo seid ihr? Nicht, dass ich so gern auf euch geschlafen hätte, aber das muss mir doch einfach jemand sagen, dass hier alles anders, so anders, wird.
Und du, Tier? Du Tier auf der Straße, in das ich mich so verliebt habe. Du Schwein, Schaf, Ziege, Lama, dass du in Europa so fein säuberlich abgeschirmt, abgesteckt, abgeschlachtet wirst, dass dich keiner mehr sehen kann, hier konnte ich dich leben. Und du großer Eselfreund, der mir ein ums andere Mal sein Ohr geliehen hat, du Pferdefreundin, die ich jeden Tag streicheln konnte, ihr tausend Hühner-Augen, denen ich hinterhergackern konnte, du Affe, du Papagei, du Kaiman? Wo seid ihr alle hin, Tiere der Straße, von mir aus auch als frisch geschlachteter Ziegenkopf, der einfach so auf nem Leintuch von ner desinteressierten Indianern irgendwo in den andinen Bergen angeboten wird, und aus dem die Zunge schlaff heraushängt und dessen Augen halb geschlossen sind.
In Chile ist einem eines geblieben, immerhin. Hunde, zu Hunderten laufen sie genauso freiwuselnd durch die Straßen wie in Ecuador oder Bolivien. Das ist alles, stundenlanges Knuddeln mit den Vierbeiner, immerhin.
Und wo bist du hin Pachamama, Steinhaufen aus Liebe zur Erde, Schluck Wasser als Trunkdank, Jahresbeginn am tiefsten Punkt der Sonne? Wo ist der indianische Ursprung? Wie kann ich ihn hier finden, wenn es sie, die Indios, hier gar nicht mehr gibt, wenn nur noch dicke Menschen in viel zu engen Kleidern (Warum machen die das überall auf der Welt?? Äh, außer natürlich die Ökos...) in dicken Autos mit cooler Musik, Verträgen, Polizisten und gebügelten Hemden die Straßen säumen.
Hey, ich hab nix gegen euch, weder gegen Dicke, noch gegen Polizisten, noch gegen Chilenen. Ihr seht halt einfach amerikanisch in klein aus, gebt euch auch so, habt nen Dollarzeichen in euerer Währung und nehmt ne ganze Menge ein, aber trotzdem, hier ist schön, ruhiges Pazifikmeer, keine weißen, aber doch weite sandige Strände, dazu Ulmen, Pappeln und Platanen neben Palmen und Eukalyptus, Strahlesonne und lecker Lagnese-Eis, was hier den seltsamen Namen Bresol trägt. Alles schön, und doch tut´s mir weh, weil es so unerwartet, so unberechenbar, wie der Tod in Windeseile kam.
Ich hatte mir doch so fest vorgestellt, wie ich nach Deutschland zurückkomme, kalten Autobahnboden betrete, Kinder in Wägen sehe und traurig werde. Hat mich drauf vorbereitet und war auch schon sterilisiert genug, weil ich mich und meine Umwelt schätze und alle ihre Berechtigung haben, Welcome Home, happy Aktenordner-Land, nimm mich in deine Arme, und nebenbei dann ordentlich Anden-Rekapitulation.
Mir hat keiner gesagt, dass mir dass alles in Chile schon passiert, dass ich gezwungen werde zu reflexionieren, nach Luft zu schnappen, und ohne Denken, ohne Wollen, Bolivien einfach die Krone aufsetzen muss, für so viel Andersartigkeit, für so viel Fremdheit, für so viel Natur, für so viele Tiere.
Trauben für den Abschied
Der große Don de Luna hat natürlich Recht gehabt, hier herrscht ein anderes Verständnis der Wirklichkeit, eines, dass wir mit dem Kopf nicht begreifen können, dass wir vernünftig nicht ergründen können, so sehr wir uns auch bemühen. Oder wie soll das gehen wenn man in nem Laden steht und die Verkäuferin guckt einen nicht an und spielt nur mit ihrem Handy. Scheißegal, ob Gringo was kauft, ob die Welt sich dreht oder nicht. Wie soll das gehen, wenn überall Schweine mit Kindern im Dreck spielen, sich gegenseitig schlachten, roh und unvermittelt vor deinen Augen. Schlaf im Staub und mach´s sofort. Und unabsichtliches Unrecht hat er auch gehabt, als er sagte, dieses andere Verständnis herrsche in Südamerika. Das tut es nicht. Es herrscht im andinen Indioherz-Land, wahrscheinlich auch noch weiter darüber hinaus; hier in Chile und wohl auch in Argentinien herrscht eine Mischung aus westlicher Überlegenheit und einen winzigen Rest südamerikanischer Sonnenverbanntheit, die Hunde auf der Straße und ein paar kleine Müllhalden am Rande der Städte sind die letzten Überbleibsel.
Ich hab das in dieser krassen krossen Krabbe-Art, in diesem Schweine-Wahnsinn nicht ganz so bemerkt als ich da drinnen war, nicht in Ecuador, nicht in Peru und auch nicht in Bolivien. Ich war letztlich immer froh, wenn ich die Grenzen im Rücken hatte, es war heftigst anstrengend, krank machend, schwierig, dem Fressen und Gefressenwerden der Welt schon ganz schön nahe. Jetzt, im Nachhinein, merke ich, spüre ich, was ich daran hatte. Esel, Schweine, Ursprünglichkeit! Und warum werde ich da traurig? Hatte ich mich ordentlich, voller Strahlebewusstheit verabschieden müssen?
Tu ich hiermit!
Und jetzt genug des Lamentierens, Chile wartet mit Beach und Brandy, mit Wein und Trauben, die, sofortige Überzeugung, die leckersten der Welt sind. Riesig und mit weißem Fruchtfleisch, das aussieht wie bei asiatischen Litschis, schmecken vorzüglich und machen glücklich. Also los, her mit den Weintrauben, schwelgen wir später noch mal von dir Indiomama mit deinem Kind im Tuch, mit deinem braunen, kräftigen Geicht, dem gesenkten Blick, der bolivianischen Schüchternheit, dem Bergriesen im Rücken, der Rute in der Hand, der Schafherde vor dir, ich hör auf, sonst komm ich nicht los von dir ...