Hochland

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Helfen ist riskant

Unterwegs nach Kainantu

Onerunka und archaische Erinnerungen in Raipinka

In der folgenden Woche flog ich nach Kainantu, wo mich Wiebke, eine Lehrerin aus Onerunka, abholte. Auf der Fahrt schilderte sie mir das Leben im Hochland. Über die „Buschtrommeln“ wusste ich, dass sie vor wenigen Monaten beim Joggen überfallen und vergewaltigt worden war. Sie erwähnte diesen Vorfall mit keinem Wort, sprach aber mit deutlich zu hörender Verbitterung über die sich verschärfende Sicherheitslage im Hochland. Als ich die bunten bilums am Straßenrand bemerkte und die erdfarbenen von früher erwähnte, sagte sie: „Hier ist nichts mehr so, wie Du es aus den siebziger Jahren in Erinnerung hast. Die Traditionen, an die Du Dich erinnerst, existieren nicht mehr“. Deutlich erregt fuhr sie fort: „Als mir Amos von eurem Picknick an der Hochlandstraße berichtet hat, wäre ich fast ausgerastet. Das war bodenlos leichtsinnig, denn selbst bei Euch an der Küste empfiehlt inzwischen die Regierung Fahrerflucht, wenn jemand, egal, ob weiß oder schwarz, einen Menschen oder ein Schwein überfahren hat“. Sie berichtete von einem einheimischen Arzt, der vor einigen Monaten ein Kind, das ihm in sein Auto gelaufen war, angefahren hatte. Er war ausgestiegen, um erste Hilfe zu leisten, und die Leute des Dorfes hatten ihn prompt totgeschlagen. „So ist das hier“, sagte Wiebke fast emotionslos, „du willst helfen und wirst totgeschlagen“.


In Onerunka fiel mir ein schlaksiger, selbstbewusster Amos um den Hals, der sich wahnsinnig auf die Kochkünste seiner Mutter freute und ansonsten in seinem Hostelleben so aufging, dass er an den Abenden kein Interesse hatte, mit mir zusammenzusitzen. Gut so, dachte ich, wir haben jeder für sich unseren Stand im Leben gefunden. Bei meiner Ankunft waren noch die Hauseltern da, Karen und Wayne, ein amerikanisches Ehepaar, die offenbar die Ernährung der Kinder auf Dosenbasis betrieben, ein Zustand, dem ich schleunigst abzuhelfen gedachte. Sie brachen gleich am nächsten Morgen zu ihrem wohlverdienten Urlaub an die Küste auf, in der Nähe von Madang. Die Abende verbrachte ich ersatzweise mit Wiebke, die auch weiterhin die Tatsache ihrer Vergewaltigung als Thema unerwähnt ließ, durch die mir aber so manche Veränderung im Lande, die ich entweder in der relativ heilen Welt von Madang nicht wahrgenommen, oder auch schlicht verdrängt hatte, bewusst wurde.


Für die Kinder im Hostel ließ ich meine Kochkünste spielen. Zufrieden stellte ich fest, wie Amos mit seiner Mutter vor den anderen Kindern „angab“, was mich zu weiteren Steigerungen meiner Anstrengungen anspornte. An einem Morgen, nachdem die Kinder aus dem Haus waren, nahm mich Wiebke mit nach Kainantu, damit ich auf dem Markt einkaufen konnte. Auf der Rückfahrt sollte ich mit einem Stationsmitarbeiter von Raipinka dorthin fahren, und sie wollte mich nach ihren Erledigungen von dort abholen, um zurück nach Onerunka zu fahren. Auf dem Markt in Kainantu tätigte ich meine Einkäufe, erledigte noch meine Restkäufe in einem der Supermärkte und traf mich am Rande des Marktplatzes mit dem Fahrer von Raipinka.


Auf der Fahrt fühlte ich eine gewisse Unruhe, denn Raipinka war, wie ich aus Schilderungen von früher wusste, die Station, die mein Schwiegervater erbaut hatte, bevor er seine Braut in Finschhafen abgeholt hatte. Vor dem leerstehenden Missionshaus in Raipinka setzte mich der Fahrer ab, und ich suchte mir in der Kühle des Hochlands einen Platz, um auf Wiebke zu warten. Auf der überdachten Veranda stand eine festgebaute Bank aus Eisenholz, wie der Rest des Hauses aus einem Holz, das so schwer ist, dass es im Wasser untergeht. Ich setzte mich in der wärmenden Hochlandsonne auf diese Bank, wartete auf Wiebke, und war bald durch den langen Vorabend, den wir miteinander verbracht hatten, eingedöst.


Als Wiebke mit lautem Rufen auf sich aufmerksam machte, schreckte ich aus meinen Träumen. Ich hatte mich total in die Vergangenheit begeben, Traum und Realität vermischten sich beim Aufwachen. Die Stimme meines Schwiegervaters war ertönt: „Nachdem wir nach Raipinka geritten waren, habe ich sie erst einmal ein paar Tage alleingelassen. Sie sollte Gelegenheit haben, sich an das Ehefrausein zu gewöhnen“. Er war erst einmal ein paar Tage auf Buschtrip gegangen, damit seine Frau sich in dem Land, in dem sie geboren war, als Ehefrau einfinden konnte. Wirklich glücklich sollte diese von ihm erzwungene Ehe aber nie werden. Ich habe nie wieder ein so wenig zueinanderpassendes Ehepaar erlebt wie meine Schwiegereltern. Dieses unentrinnbar aneinander Gebundensein, nicht Loskommen von einer Ehe, die beide nicht glücklich machte, hat diese beiden, jeder für sich warmherzigen Menschen, zutiefst geprägt.