Bestimmung

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Langsam wird alles Routine

Ansehen und Bewunderung bei den Dorfbewohnern

Verheerende Folgen einer Krankheit

Diese Geschichte geht eigentlich erst Monate später weiter, aber den anderen Teil möchte ich gleich jetzt erzählen. Immer wieder ging ich mit Amos nachmittags neben anderen Besuchen auch zu Mama Aisaip zum Teetrinken. Jedes Mal reichte sie mir Ainimes dabei angelegentlich herüber und ich hielt dieses wachsende kleine Mädchen beglückt in meinen Armen. Einmal, Ainimes war vielleicht acht Monate alt, streckte sie bei meinem Weggehen flehendlich ihre Ärmchen nach mir aus. Auf meinen fragenden Blick hin übergab mir Mama Aisaip das Kind mit den Worten: „Sie will mit Dir gehen, weil sie weiß, dass sie nur Deinetwegen noch auf der Erde ist.“ Von da an hatten wir ein neues Ritual. Ainimes musste nicht mehr flehen, ich nahm sie einfach mit in unser Haus. Hier saßen wir zu dritt, jedes Kind bekam sein Glas Milch mit Milopulver und nach einer Stunde brachte ich Ainimes zurück zu ihrer Mutter. Noch viele Jahre später, als wir in Amron lebten, kam in Abständen ein mit Gartenfrüchten gefülltes bilum bei uns an. Uns war jedes Mal sofort klar, dass Mama Aisaip uns wieder einmal bedacht hatte.


Natürlich hatte Aisaip allen möglichen Leuten von der wundersamen Rettung seiner jüngsten Tochter berichtet, die – eigentlich dem Tode geweiht – von mir „auf dieser Erde“ festgehalten worden war. Ich meinte, sogar seine Wortwahl zu kennen. Es dauerte nicht lange, bis die jungen Mütter zu mir kamen, und ebenfalls nach Glasfläschchen und Milchpulver verlangten. Ich nahm mir viel Zeit, zu erklären, dass Muttermilch viel gesünder und natürlicher für ein Baby sei. Zudem hätten unzureichend oder gar nicht ausgekochte Fläschchen und Sauger mit Sicherheit den Tod einiger Säuglinge bedeutet. Es nützte nichts – für diese Frauen bedeutete das nur, dass ich ihnen die strongpela marasin, die starke Medizin, die Ainimes das Leben gerettet hatte, vorenthielt.

Die Versorgung der Kranken war zu einem festen Bestandteil meines Tagesablaufs geworden, ich konnte mir mein Leben anders gar nicht mehr vorstellen. Selbst die Behandlung der Leprakranken, vor der ich mich anfangs so arg gefürchtet und geekelt hatte, hatte ihren Schrecken verloren. Zum einen hatte ich bereits in Yagaum gelernt, dass Lepra bei weitem nicht so ansteckend ist, wie es mir durch Bücher und Filme vermittelt worden war. Zum anderen waren die Leprakranken schon in den 1970er Jahren in Niugini durch ein Programm der australischen Regierung erfasst und hatten ihre Karte, auf der die Medikamentenration notiert war. So musste ich am „Lepratag“ lediglich das richtige Medikament verabreichen und auf der Karte eintragen. Jährlich einmal reisten von der Regierung angestellte Krankenschwestern- und Pfleger durch die Buschdörfer und überprüften die Karten. Ich fühlte mich auf der sicheren Seite, aber ich konnte mir meine Erfahrungen eben nicht auswählen.


An einem Vormittag in der Regenzeit war unter den wartenden Patienten ein Mann, dessen Leprakarte ich bereits oft ausgefüllt hatte. Schon auf dem Weg zur dispensary bemerkte ich etwas verwundert, dass die anderen Wartenden irgendwie von diesem Mann Abstand zu halten versuchten. Spätestens als er die Krankenstation betreten hatte, stellte sich die Frage nicht mehr, warum das so war. Sofort bei seinem Eintreten überfiel mich ein übelkeiterregender Gestank. Er jammerte, er habe neben dem Feuer geschlafen und sein Knie müsse wohl im Schlaf in das Feuer geraten sein. Ich wusste, dass bei Leprakranken in den befallenen Körperteilen die Gefühlsnerven, also auch der Schmerznerv, abstirbt. Ich bat den Mann, auf der Liege Platz zu nehmen, um mir seine Wunde ansehen zu können. Noch nie zuvor hatte ich etwas derart Ekeliges gesehen. Er hatte mit Sicherheit einige Tage nach dem Vorfall gewartet, bevor er sich zum Kommen entschlossen hatte. In diesen Tagen hatten die Tropenfliegen Zeit gehabt, ihre Eier in seine Brandwunde zu legen. In der stinkenden Wunde wimmelten die Fliegenlarven in Massen herum. Ich rannte am Haus entlang in die Küche und bereitete eine Schüssel mit Desinfektionslösung vor. Von nun an folgte ein Vorgang, den zu beschreiben mir sogar Michael gegenüber etwas peinlich war. Ich hatte mich bereits zu sicher gewähnt in dem, was ich vertragen konnte. Etwa eine Stunde lang legte ich dem Mann eine mit Desinfektionslösung getränkte Kompresse nach der anderen auf und rannte dann am Haus entlang über die Veranda zur Toilette, um mich zu übergeben. Erneut eine Kompresse und wieder folgte würgendes Rennen. Zum Abschluss gab ich ihm eine Penicillinspritze, und dieses schreckliche Erlebnis wiederholte sich noch sieben Tage, bis zögerlich eine Hautbildung einsetzte. In diesen sieben Tagen habe ich so manches Mal meinen Entschluss, die Krankenversorgung zu übernehmen, zutiefst bereut.