Ajaccio
Napoleons mediterranes Reich (20000)
Ajaccio, Bonapartes Heimatstadt
Besteht angeblich aus der Erinnerung an Napoleon und ein paar Häusern drumherum. Eine anderer, Ferdinand Gregorovius, notierte sich bei seinem Besuch im Jahre 1852: »Die Erinnerung an Napoleon ist die eigentliche Seele der Stadt, und so schlendert man einher in Gedanken an den wunderbaren Menschen und an seine Kindheit, aus einer Gasse in die andere, und bald sind sie alle durchwandert.«
Ist zwar schon eine Weile her, stimmt aber bis auf den heutigen Tag: der Knabe ist einfach allgegenwärtig, sein Schatten liegt nach wie vor auf Ajaccio. Tagtäglich nimmt er die Huldigungen der geschäftstüchtigen Stadtbewohner entgegen. Ein Jammer, dass der einstige Herrscher über ganz Europa heute nur noch eine Präfektur regiert, wenn auch die stauanfälligste. Wer? Nein, nicht Tino Rossi ... Napoleon Bonaparte natürlich!
Eng sind die Altstadtgassen, doch gradlinig wurden sie geplant im »Vorraum« der Zitadelle: als Wohnstätte der Genuesen Korsen mochten vor dem Tor siedeln! Doch sind die Häuser korsisch kahl, ohne Balkone, nur Türen und Fenster, mit spärlich gelüpften Ladenteilen.
In solch strengem Haus, in der Via Malerba, wohnte Carlo Buonaparte von Kind auf, nach dem frühen Tod der Eltern, mit Onkel Erzdiakon Luciano. Von hier reiste er öfters aufs Festland, als Student der Rechte, nach Pisa, San Miniato und Florenz, als Vertreter des korsischen Adels nach Paris und schwerkrank, zur Kur und zum Tod, nach Montpellier. Mit Carlo wohnte hier Letizia nach ihrer beider Rückkehr aus Corte, im Juni 1769. Hier wurde ihnen am 15. August 1769 der zweite Sohn, Napoleone, geboren, wie auch ihre weiteren sechs Kinder.
Hinter solch absondernden Mauern verbrachte Letizia in stolzer Armut ihre frühen Witwenjahre, von hier floh sie mit den Ihren im Mai 1793 vor den Paolisten. 1797 kehrte sie auf knappe zwei Jahre zurück, um das geplünderte ausgebrannte Familienhaus zu säubern und neu zu möblieren, wofür sie die Gegenschwiegermutter Clary bat, ihr aus Marseille Passendes zu schicken, denn von früher war ja nichts heil geblieben.
Dem Schatten des Kaisers, seinen Denkmälern, seinem Andenken, seinem Namen begegnet man allenthalben in der Stadt, doch in der Maison Bonaparte hat der Kaiser nie gewohnt. Hier lebte nur ein wilder, scheuer Knabe, dem die Strümpfe so faltig herabhingen, dass die Mädchen ihm auf der Gasse Spottverse nachsangen. Auf ein paar Monate wohnte hier ein junger Leutnant, dem der strähnige, nach Neuererart ungepuderte Kopf fast platzte vor Ideen und Plänen. Und auf ein paar Tage, Ende Oktober 1799, nahm hier General Bonaparte Wohnung, von dem niemand wußte, ob er als Sieger oder als Besiegter aus Ägypten heimkehrte, und den doch, in Ajaccios Straßen, »ein Reigen von Vettern« feierte, als wüßten sie ganz gewiß, dass ihn wenige Wochen später Paris als Ersten Konsul Frankreichs feiern würde.
Wenn auch Ajaccio kein klassisches Ferienziel ist, so nehmen Stadt und Bevölkerung mit ihrem Charme doch für sich ein. Uns kühlen Nordlichtern mag das mediterrane Treiben entsetzlich laut und aufgeregt anmuten. Man könnte glatt eine Abneigung gegen die Hafenstadt fassen. Aber das hätte sie nicht verdient: können wir hier nicht immer noch durch alte Gäßchen mit bunten Häusern flanieren? Und liefert die Umgebung der Bucht von Ajaccio nicht etwa eine prächtige Kulisse? Die Sanguinaires-Inseln etwa, das Porticcio der Reichen und Berühmtheiten oder die Berge bei Bastelica? Der Blick zum Torre de la Parata von 1608 auf der größten Sanguinaire-Insel und den zum Wahrzeichen gewordenen gerade erwähnten Eilanden gehört zu den unvergeßlichsten Eindrücken, die uns Korsika beschert. Auf der größten der Inseln erhebt sich übrigens jener Leuchtturm, in dem Alphonse Daudet 1863 seine Lettres de mon Moulin verfaßte.